Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 601

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schen Partei und Gewerkschaften, sondern innerhalb der Gewerkschaften wie bis zu einem gewissen Grade innerhalb der Partei. Es ist dies der Zwiespalt zwischen der „revidierten“ Auffassung einer Minderheit von Führern und der gesunden revolutionären Auffassung der Arbeitermasse. Die Masse der Gewerkschaftsmitglieder ist auf unserer Seite und fühlt wohl, daß es im Interesse sowohl der Partei wie der Gewerkschaften liegt, daß die gesamte Arbeiterbewegung von dem gleichen Geiste durchhaucht ist, daß sie in allen ihren Teilen vom Geiste des Sozialismus getragen sein muß. (Lebhafte Zustimmung.) Sie alle fühlen, daß sich die Gewerkschaften und Sozialdemokratie sagen müssen, wie Bertha im „Wilhelm Tell“: „Es ist ein Feind, vor dem wir alle zittern, und eine Freiheit macht uns alle frei.“[1] (Lebhafter Beifall.)

II Rede über die erste russische Revolution

und die deutsche Arbeiterbewegung[2]

Wenn man die bisherigen Reden in der Debatte zur Frage des politischen Massenstreiks hier gehört hat, muß man sich wirklich an den Kopf fassen und fragen: Leben wir denn tatsächlich im Jahre der glorreichen russischen Revolution, oder stehen wir in der Zeit zehn Jahre vor ihr? („Sehr richtig!“) Sie lesen tagtäglich in den Zeitungen die Berichte von der Revolution, Sie lesen die Depeschen, aber es scheint, daß Sie keine Augen haben, zu sehen und keine Ohren, zu hören. Da verlangt man, daß wir sagen, wie werden wir den Generalstreik machen, mit welchen Mitteln, zu welcher Stunde wird der Generalstreik erklärt, habt ihr schon die Maga­zine für die Lebensmittel? Die Massen werden verhungern. Könnt ihr es auf euer Gewissen nehmen, daß Blut fließt? Ja, alle, die solche Fragen stellen, haben nicht die geringste Fühlung mit der Masse, sonst würden sie sich nicht so weit den Kopf um das Blut der Massen zerbrechen, denn die Verantwortlichkeit ruht gerade nicht bei den Genossen, die diese Fragen stellen. Schmidt sagt, warum sollen wir auf einmal unsere alte bewährte Taktik dem Generalstreik zuliebe aufgeben, warum sollen wir auf einmal diesen politischen Selbstmord begehen? Ja, sieht denn Robert Schmidt nicht, daß die Zeit gekommen ist, die unsere Großmeister Marx und Engels vorausgesehen haben, wo die Evolution in die Revolution


[1] Friedrich Schiller: Gesammelte Werke, Vierter Band, Berlin 1959, S. 497.

[2] Redaktionelle Überschrift.

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