Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 602

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umschlägt? Wir sehen die russische Revolution, und wir wären Esel, wenn wir daraus nichts lernten. Da stellt sich Heine hin und fragt Bebel, ja haben Sie auch darüber nachgedacht, daß im Fall des Generalstreiks nicht nur unsere wohlorganisierten Kräfte, sondern auch die unorganisierten Massen auf dem Plan zu erscheinen haben, und haben Sie auch diese Massen im Zügel? Aus diesem einen Wort geht die ganze bürgerliche Auffassung von Heine hervor, das ist eine Schande für einen Sozialdemokraten. (Unruhe.) Die bisherigen Revolutionen, namentlich die von 1848, haben bewiesen, daß man in revolutionären Situationen nicht die Massen im Zügel halten muß, sondern die parlamentarischen Rechtsanwälte, damit sie die Massen und die Revolution nicht verraten. Schmidt hat sich auf das belgische Experiment[1] und auf den Ausspruch von Vandervelde[2] bezogen; ich glaube, wenn irgend etwas gezeigt hat, daß man eine großartige spontane revolutionäre Massenbewegung durch Kleingeisterei ruinieren kann, so war es dieser Streik, und Vandervelde konnte meiner Kritik gegenüber nicht eine einzige Tatsache anführen, sondern suchte sich durch allgemeine Redensarten herauszureden, als ich ihm nachwies, daß diese ganze großartige Massenstreikbewegung durch das parlamentarische Techtelmechteln mit den Liberalen zugrunde gegangen war. (Bernstein: „Unwahr!“) Ach, was verstehen Sie davon? (Große Unruhe.) Heine hat das rote blutige Gespenst heraufbeschworen und gesagt, ihm sei das Blut des deutschen Volkes teurer als – das war der Sinn seiner Worte – dem leichtsinnigen Jüngling Bebel. Ich will die persönliche Frage beiseite schieben, wer mehr berufen und mehr befähigt ist, die Verantwortung zu tragen, Bebel oder der vorsichtige, staatsmännische Heine, aber wir sehen doch an der Geschichte, daß alle Revolutionen mit dem Blut des Volkes erkauft sind. Der ganze Unterschied ist, daß bis jetzt das Blut des Volkes für die herrschenden Klassen verspritzt wurde, und jetzt, wo von der Möglichkeit gesprochen wird, ihr Blut für ihre eigene Klasse zu lassen, da kommen vorsichtige sogenannte Sozialdemokraten und sagen, nein, dies Blut ist uns zu teuer. Es handelt sich augenblicklich nicht darum, die Revolution zu proklamieren, es handelt sich nicht einmal darum, den

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[1] Siehe S. 201, Fußnote 1.

[2] Emile Vandervelde hatte in der „Neuen Zeit“ auf Rosa Luxemburgs Artikel „Das belgische Experiment“ (siehe S. 212–219) geantwortet. Aus dieser Antwort zitierte Robert Schmidt in seiner Diskussionsrede auf dem Parteitag folgende Stelle: „Was vermochten die Tausende von Manifestanten bei all ihrem Mute gegen die Gewehre der Gendarmerie und der Zivilgarde auszurichten, die sielt den sechzigtausend Bajonetten der regulären Armee angliederten. einer Armee, die gewiß der Regierung unzuverlässig erschien, deren großer Teil zum mindesten sich jedoch dem Kommando zum Massaker gefügt hätte.“ (Emile Vandervelde: Nochmals das belgische Experiment. In: Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 167.)