Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 60

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dem Lande als eine leere Formalität, eine chinesische Zeremonie.[1] Die Verantwortlichkeit eines sozialistischen Regierungsmitglieds für die Handlungen der bürgerlichen Regierung ist ihm nur „ein Schein“, analog dem Eide auf den König und die Verfassung, den die Sozialisten beim Eintritt in den sächsischen Landtag leisten müssen. Er beruft sich auf Liebknecht, der dies „papierne Hindernis“ mit souveräner Verachtung überschritten hat.

Jaurès vergißt dabei einen fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Fällen. Während die erwähnte Eidesleistung die Sozialisten nicht im geringsten verhinderte, einmal in den Landtag hineingekommen, sofort in die grundsätzliche Opposition zur Regierung und zur Landtagsmajorität zu treten, wird der Sozialist in einer bürgerlichen Regierung gezwungen, ihre Politik mitzumachen. Die Analogie würde erst dann zutreffen, wenn die sozialistischen Abgeordneten im Landtag durch ihren Eid gezwungen worden wären, auf den Bänken der bürgerlichen Majorität Platz zu nehmen und mit ihr solidarisch zu votieren. Tatsächlich besteht hier nicht Analogie, sondern direkter Gegensatz: In die Volksvertretung treten die Sozialisten ein, um die bürgerliche Klassenherrschaft zu bekämpfen, in die bürgerliche Regierung – um die Verantwortlichkeit für die Akte dieser Klassenherrschaft auf sich zu laden.

Zweitens ergibt sich, daß es ein vollkommen utopischer Plan ist, zu denken, ein Ressort der Regierung könne bürgerliche, ein anderes sozialistische Politik treiben, und die Zentralgewalt könne somit stückweise, nach einzelnen Ressorts, für die Arbeiterklasse erobert werden.

Wenn die sozialistischen Anhänger Millerands sich mit aller Kraft bemühen, seine Verantwortlichkeit für die Handlungen der anderen Minister abzuleugnen und sie auf seine eigene Tätigkeit zu beschränken, so geschieht es, weil sie wenigstens die eigene Aktion Millerands als „sozialistische Politik“ darstellen zu können glauben. Letztere Illusion erreichen sie aber – abgesehen von der kritiklosen Verherrlichung der Millerandschen Sozialreformen – dadurch, daß sie die Sozialreformen als die einzige Beschäftigung des Handelsministers hinstellen und alle anderen mit Stillschweigen übergehen.

Allein, wie in der kapitalistischen Wirtschaft der Arbeiter nur eine Produktionsbedingung unter vielen anderen darstellt, ebenso ist die soziale Arbeiterfürsorge nur ein, und zwar ein untergeordneter Zweig in den Funktionen des bürgerlichen Handels- und Industrieministeriums, die alle auf das Gedeihen der kapitalistischen Produktion und des Austausches

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[1] Siehe Jaurèsʼ Rede in Lille. In: Les deux Méthodes, S. 8. [Fußnote im Original]