Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 590

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pfuscht der künftige liberale Staatsmann einfach aus unlauterem Wettbewerb den Staatsmännern der Knute ins Handwerk.

Der Verrat der bürgerlich-liberalen Parteien an der Revolution und dem Liberalismus ist ja in der Geschichte nichts gerade Neues. Jede der modernen Revolutionen in Frankreich, in Deutschland war noch bis jetzt eine Geschichte dieses Verrats der liberalen Mannen am kämpfenden Volke. Aber bis jetzt begann der Verrat doch wenigstens immer erst nach den ersten Siegen der Revolution, erst als die liberale Bourgeoisie bereits die Macht erlangt hatte. Das Neue in der russischen Revolution ist, daß sich der Liberalismus schon am Ruder fühlt, bevor noch die geringste Konzession gemacht worden. Die russischen Liberalen werden zu „starken“ Staatsmännern und zu Männern der „Ordnung“ nicht einmal in der Paulskirche, sondern bereits im Exil in Paris, während in Petersburg noch Trepow der Herr im Hause ist! Hier äußert sich wieder einmal in bemerkenswerter Weise das eherne materialistische Gesetz der Geschichte und die Windbeutelei aller „Ideologie“, die nicht in materiellen Klasseninteressen feste Wurzeln hat. Das jetzige Verhalten der russischen Semstwo-Liberalen steht noch um so viel tiefer unter dem ehemaligen Verhalten der deutschen Liberalen, um wieviel der agrarische, in seinem innersten Wesen ökonomisch-reaktionäre Semstwo-Liberalismus unter dem noch so feigen und halben Liberalismus der kapitalistischen großindustriellen Bourgeoisie steht. Diese letztere Spezies von Liberalismus fehlt in Rußland als Klassenerscheinung gänzlich. Dazu kommt die russische Revolution viel zu sehr als verspäteter Nachzügler. Den Letzten beißen die Hunde – auch in der Geschichte.

Aber die deutsche Sozialdemokratie kann aus dem Fall Struve auch noch eine nützliche Lehre für die richtige Beurteilung der russischen Verhältnisse ziehen.

Lange Zeit hindurch war in den Reihen der deutschen Genossen der Glaube an die Macht des russischen Liberalismus vorherrschend, ein Glaube, der auf die gebührende Wertschätzung der revolutionären proletarischen Bewegung Rußlands und seiner Taktik sehr benachteiligend wirkte. So war, als im Januar einige sozialistische Fraktionen: die terroristischen Sozialisten-Revolutionäre, die nationalsozialistische Polnische Sozialistische Partei und noch einige kleinere Gruppen, mit der Struve-Partei in Paris einen „Block“ gebildet hatten[1], mancher Genosse – und auch das Zentralorgan darunter – gelinde verwundert und sehr bekümmert, warum


[1] Siehe S. 456, Fußnote

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