Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 571

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zwanzigtausend Arbeiter in Warschau das nächste Mal eine vierzigtausendköpfige Demonstration in Warschau sein wird, wenn auf die Kunde von dem Gemetzel in Warschau eine immer größere Menge von Arbeitern in der ganzen Umgebung von Warschau, in Lódz, im Dabrowa-Becken, in Czestochowa und in Bialystok zur Demonstration aufsteht, so wird in dem Maße, wie die auftretende Masse wächst, unfehlbar die Unsicherheit unter den Truppen wachsen und das Schwanken der Regierung im Hinblick auf deren Verwendung gegen die Massen, und im Maße dessen wird sich gleichzeitig das Gemetzel der wehrlosen Menschenmenge durch die Häscher in einen Kampf der sich im Verlaufe des Kampfes bewaffnenden Menge umgestalten, in einen Kampf, der nicht anders als mit dem Sieg der Revolution enden kann.

Der Masse des Proletariats die Macht ihrer eigenen Bewegung offenbaren und dadurch ihren Massencharakter und ihre Macht vergrößern, das ist auch in diesem Falle wie immer und überall der ganze Inhalt und das Geheimnis der sozialdemokratischen Agitation und der Führung, die nicht darin besteht, die Masse in der Geschichte „zu ersetzen“, sondern sie auf den Schauplatz des Klassenkampf es zu rufen, nicht um sie „aufzuhetzen“, sondern um ihr die Aufgabe bewußt zu machen, die so einfach, aber zugleich so groß ist, einfach und groß wie die historische Bewegung des Proletariats für seine Klassenbefreiung.

Eine der Illusionen bezüglich der eigenen Kraft auf seiten des kämpfenden Teils des Proletariats ist zweifellos in solchen Augenblicken wie den Maitagen die Illusion in bezug auf die Sympathie der „Gesellschaft“ für die Arbeiterrevolution. Der Eindruck, den die Demonstration und später das Maigemetzel in der ganzen Stadt, der durch nichts gestörte Verlauf des allgemeinen Streiks in Warschau am 4. Mai hervorgerufen haben, kann in den Arbeiterkreisen zweifellos Illusionen hinsichtlich des politischen Mitgefühls der bürgerlichen Kreise hervorrufen. Die Sozialpatrioten[1] nähren, getreu ihrem nationalistischen Standpunkt, natürlich auch diese verderbliche Illusion der Arbeiter, indem sie z. B. im „Naprzód“ (Vorwärts) schreiben: „Man muß das Verhalten der ganzen Gesellschaft unterstreichen (ich sage der ganzen, obwohl sicherlich ‚nüchterne‘ Elemente, die insbesondere zu den leitenden Kreisen verschiedener ‚politischer‘ Parteien gehören, aus höheren politischen Gründen über die Unruhen klagen werden): alle Schichten, die Ladenbesitzer, die Kaufleute, die Intelligenz, die Industrie, die bürgerlichen Kreise, alle blicken wohlwollend und mitfühlend auf diese Bewegung. Gestern und heute (der 1. und der 2. Mai)


[1] Siehe Bd. 1/1, S. 90–92.

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