Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 570

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oberte sich das Bürgerrecht. Es gab eine Zeit, da schien der Gedanke an eine offene sozialistische Arbeiterversammlung eine Tollheit zu sein. Und trotz der blutigen Opfer eroberte sich die Arbeiterbewegung allein durch das sich verstärkende und immer häufiger wiederholende Improvisieren von Versammlungen die Möglichkeit, ihre Fragen in Massenversammlungen zu besprechen, sowohl in Rostow am Don[1] als auch im Kohlenbecken von Dabrowa Górnicza und in anderen Gegenden. Der allgemeine Streik als Mittel des politischen Kampfes trat erst Ende Januar auf den Schauplatz, und bereits am 1. und 4. Mai zeigten die Arbeiter, daß sich der allgemeine Streik in unserem Land das Bürgerrecht erworben hat, zu einer normalen Erscheinung geworden ist. Dieselbe Entwicklung nimmt die Frage der Massendemonstration, und denselben Weg wie die Demonstration und durch die Demonstration, mächtiger werdend und sich immer breiter ergießend, wird die siegreiche Revolution als Ganzes gehen.

Auf diese Weise und in solchen Situationen wie der jetzigen nach dem Mai, da die revolutionäre Spannung den Gipfel zu erreichen und nach einer außergewöhnlichen Tat zu rufen scheint, darf der bewußte Klassenkampf des Proletariats nicht von seiner allgemeinen und grundsätzlichen Taktik abgehen – und dazu besteht auch keine Notwendigkeit –, die für alle Situationen und Phasen des Kampfes genügt. Der Ungeduld und dem Verlangen nach der Tat im Proletariat kann die Sozialdemokratie keinen Ausweg in Form irgendwelcher künstlichen momentanen. Beruhigungs­mittel zeigen wie die von den „Massen“ sprechende und mit „Rachebomben“ herumwerfende PPS, sondern nur in der Aufforderung des Proletariats zu weiterem massenhaften, immer mehr massenhaften Auftreten.

Das revolutionäre Proletariat als eine Klasse, die der Natur der Sache nach von höchstem Idealismus erfüllt ist, fürchtet die Opfer des Kampfes nicht, nur um die vergeblichen Opfer tut es ihm leid, es haßt nur das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit. Und hier kann die Sozialdemokratie als eine Arbeiterpartei der Masse Mut und Kraft geben, nicht indem sie ihr ein Dutzend Karabiner oder ein halbes Dutzend Bomben in die Hand drückt, sondern indem sie ihr das klare Bewußtsein dieser grundlegenden Gesetzmäßigkeit der Arbeiterbewegung vermittelt, daß der einzige Ausweg aus allen Schwierigkeiten des Massenkampfes und auf jeder Stufe seiner Entwicklung die Ausbreitung der Massenaktion und die Vergrößerung der an ihr beteiligten Masse ist.

Wenn die Antwort auf das Gemetzel bei der Maidemonstration der


[1] Siehe S. 304, Fußnote 1.

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