Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 569

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sichtbare Auftreten jenes Teils der Arbeiterklasse gegen die Regierung, der sich der Notwendigkeit des Kampfes gegen den Absolutismus schon bewußt geworden ist. Das mächtigste Mittel, das das arbeitende Volk zum Kampf heranzieht und die noch gleichgültigen Arbeiterschichten aufklärt, sind gerade die friedlichen Demonstrationen des revolutionären Teils des Proletariats. Auf diesem Wege, durch natürliche Ausdehnung, Steigerung und Verbreitung der Demonstrationen, wächst die Armee der aufgeklärten Proletarier und naht der Augenblick, wo die Revolution von selbst zur Endphase übergeht: zu unmittelbaren Straßenkämpfen des Volkes gegen die immer erregteren und immer stärker schwankenden Truppen.

Solche Demonstrationen also wie die Maidemonstration sind trotz des scheinbaren Sieges der mordenden Regierung und der scheinbaren Machtlosigkeit der gemordeten Arbeiter in Wirklichkeit ein mächtiger und unvermeidlicher Schritt nach vorn zum endgültigen Sieg des Proletariats über den Absolutismus.

Das ist ein Weg voller furchtbarer Opfer, mit den Leichen der kämpfenden Proletarier bedeckt, aber der einzige und vom Gesichtspunkt der Massenrevolution normale Weg. Auf demselben Wege entwickelte sich und siegte die Massenrevolution im Jahre 1848 in Paris, Wien und Berlin. Und auf keinem anderen Wege entwickelte sich auch die gegenwärtige Arbeiterbewegung in Polen und Rußland. Die Politiker, die sich für Sozia­listen halten und sich über die „Massenbewegung“ verbreiten, die sich vorstellen, daß sie mit Hilfe der Zirkelchen, die sich „Verschwörer“- oder „Kampfkomitees“ nennen, der Masse die Opfer ersparen, mit Kunststückchen die Opfer der Massenrevolution vermeiden können, indem sie für die Masse handeln und „im Namen“ der Masse wirtschaften, zeigen nur wieder, daß sie nicht verstehen und nicht einmal wissen, auf welchem Wege sich die Volksrevolution bisher entwickelt und den heutigen Umfang erreicht hat.

Es gab eine Zeit, da war ein gewöhnlicher, bescheidener ökonomischer Streik eine Unmöglichkeit im Zarismus. Mit gewaltigen Opfern, mit Gefängnis, mit Sibirien, mit massenhaften Ausweisungen in die Geburtsgemeinden, die einer Verurteilung zum Hungertode gleichkamen, bezahlten die Arbeiter ihre Teilnahme am allergewöhnlichsten Kampf um eine geringfügige Lohnerhöhung. Aber auf das Streiken zu verzichten war unmöglich. Und mit immer häufigeren, immer gewaltigeren Streiks eroberten die vor keinerlei Opfern zurückschreckenden Arbeiter die tatsächliche Möglichkeit zum ökonomischen Kampf, der Absolutismus verspürte die Machtlosigkeit seiner brutalen Verfolgungen, der ökonomische Streik er-

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