Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 565

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Da aber der Sozialdemokratie als einer Arbeiterpartei nicht am Schein, sondern am Wesen der Kraft des Proletariats gelegen ist, besteht ihre Aufgabe darin, den Arbeitermassen zu zeigen, daß ihre Kräfte noch zu ungenügend sind, um sie mit denen des Absolutismus wirklich messen zu können. Als Demonstration ist der Aufmarsch der Zwanzigtausend in Warschau ein ausgezeichnetes Ergebnis der sozialdemokratischen Agitation. Aber als Ausdruck des revolutionären Bewußtseins und als Kampfarmee des Proletariats ist das lediglich ein geringfügiger Teil der einige Hunderttausend zählenden Arbeitermenge in Warschau selbst und eine verschwindende Handvoll im Vergleich mit dem ganzen arbeitenden Volk in Stadt und Dorf unseres Landes. Von allem Anfang an lag das Leitmotiv der sozialdemokratischen Agitation darin, den Arbeitern zu erklären, daß nur dann, wenn das ganze arbeitende Volk – wenn riesige, breiteste Massen des Industrie- und Landproletariats sowie ein großer Teil des Proletariats, das unter den Waffen des Zaren steht, d. h. die Soldaten – bei uns ebenso wie in Rußland zum Kampf sich erhebt, der Sieg unser sein wird. Dasselbe müssen wir den Arbeitern immer wieder und unaufhörlich vor Augen halten, um so mehr dort, wo ein augenblicklicher und örtlicher Erfolg der Bewegung bei ihnen eine Überschätzung ihrer Kräfte hervorruft und die vorzeitige Illusion, daß nur noch physische Waffen für die Entscheidung des Kampfes zugunsten des Volkes notwendig seien. Das Gefühl der Machtlosigkeit der Massen gegenüber der Soldateska muß folglich ersetzt werden durch das Bewußtsein, daß es der Arbeiterrevolution nicht an „Mitteln“, sondern an „Kräften“, nicht an Karabinern, sondern an aufgeklärten Proletariern fehlt.

Als Arbeiterrevolution ist unsere Revolution der Natur der Sache nach eine Massenbewegung und wird nur als Massenkampf den Absolutismus besiegen. Das wird heute sogar schon von der nationalistischen PPS nachgesprochen, die in ihrem Maiaufruf so laut wie möglich verkündet: „Vor einer bewaffneten Handvoll wird die Regierung nicht erschrecken, mit Terror allein werden wir die zaristische Regierung nicht besiegen. Unsere Kraft liegt im massenhaften Auftreten, unsere Zukunft im Massenkampf.“ Aber die Wichtigkeit der Masse als Faktor im politischen Kampf zu verstehen und anzuerkennen ist gar keine Kunst und stellt keine Erfindung der Sozialisten dar. Daß man ohne die Millionen abgearbeiteter Hände des Volkes im politischen Kampf nicht viel erreichen kann, von diesem Geheimnis wissen alle bürgerlichen Parteien, wissen die Kapitalisten, die Reaktionäre, weiß das Kleinbürgertum sehr gut. Gerade darum bemühen sich alle Demagogen, sich an diese Arbeitermasse zu hängen.

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