Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 564

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provoziert. Aber ebendarum, je mehr die Schuld an dem tierischen Massenmord am 1. Mai ausschließlich und völlig auf die Knechte des Absolutismus fällt, um so klarer ist die Ungeheuerlichkeit ihres Verbrechens, um so stärker ruft sie in der Arbeitermasse eine doppelte Stimmung hervor: das Gefühl der eigenen verzweiflungsvollen Machtlosigkeit und das Bedürfnis nach sofortiger aktiver Vergeltung.

Die Sozialdemokratie ist verpflichtet, dieser Stimmung einen freien Lauf zu lassen, aber sie kann dieser Aufgabe nur auf eine mit dem Wesen der sozialdemokratischen Agitation übereinstimmende Weise gerecht werden: indem sie das politische Bewußtsein in diese elementare Stimmung hineinträgt.

Unter dem unmittelbaren Eindruck des Zusammenstoßes sind die Arbeiter geneigt zu meinen, ihre Machtlosigkeit gegenüber der Regierung, die sich in der Maidemonstration erwiesen hat, beruht lediglich auf dem Fehlen der Waffen, auf dem Mangel an physischen Mitteln des Kampfes. Ein gedankenloser Politiker ist nach den Maidemonstrationen bereit, wie die PPS zu rufen, die alle verderblichen Illusionen im Proletariat nährt: „Die Kräfte haben wir schon, nun erobern wir nur noch die Mittel, d. h. die Waffen für den Kampf, und der Sieg wird unser sein.“ Die Aufgabe der Sozialdemokratie dagegen besteht nicht darin, die Illusionen der Masse zu nähren, sondern sie zu zerstreuen, nicht darin, sie mit Illusionen zu füttern, sondern sie ihrer Lage bewußt zu machen.

Auf den ersten Blick waren beide sozialdemokratischen Demonstrationen – die Feier am 1. Mai und der allgemeine Streik zur Ehrung der gefallenen Opfer der Regierung am 4. Mai – Ausdruck der riesigen Macht der Arbeiterklasse. Wenn es uns darum ginge, durch äußere Demonstration unserer Kraft zu imponieren wie die Sozialpatrioten der bürgerlichen Intelligenz, so könnten wir uns mit der Feststellung der Tatsache zufriedengeben, daß es noch keine Arbeiterdemonstration gegeben hat, die so gewaltig in bezug auf den Umfang, so reif in bezug auf das Bewußtsein ihrer Losungen und so diszipliniert in bezug auf das Verhalten der Menschenmengen war, solange die sozialistische Bewegung in Polen besteht. Immerhin ist es eine Tatsache, daß die Geschichte der Arbeiterbewegung in keinem Land ein Beispiel für einen so bedingungslosen und grenzenlosen Gehorsam kennt wie den, mit dem Warschau, eine Stadt von einer Million Einwohnern, dem „Befehl“ der Sozialdemokratie bezüglich der allgemeinen Arbeitseinstellung am 4. Mai gehorchte, wie das Regierungsorgan[1] schrieb.

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[1] Das offizielle zaristische Regierungsorgan „Prawitelstwenny Westnik“.