Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 559

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ihren Anfang nahm, gar keine andere Folge hätte als die, daß die Arbeiter in einer ganzen Reihe von Arbeitsbereichen und Fabriken eine Arbeitszeitverkürzung, eine gewisse Verbesserung der Löhne, die Beseitigung einiger der schreiendsten und schändlichsten Mißbräuche erreichten – so wären diese Streiks auch dann schon dadurch ein unschätzbares Instrument für die Sozialdemokratie zur materiellen Besserstellung des Proletariats und zu seiner Erlösung aus diesem Abgrund des Elends, in den es von der zügellosen kapitalistischen Ausbeutung gestoßen worden ist.

Aber diese Bewegung und ihre Folgen waren und sind außerdem ein gewaltiger Antrieb, in der breiten Arbeitermasse das Gefühl für ihre Benachteiligung und zugleich für ihre gesellschaftliche Kraft zu wecken, eine Kraft, die im vereinten solidarischen Kampf liegt. Diese allgemeine Bewegung rief auf der anderen Seite – im Lager des Kapitals, unter den Unternehmern, ihren Gehilfen, den Meistern, unter der bürgerlichen Intelligenz, in der kapitalistischen Presse – eine vorher gänzlich unbekannte, mit Angst und Haß gemischte Ehrerbietung hervor für die Arbeiter als Klasse, als eine neue, bisher verkannte gesellschaftliche und moralische Macht. Die vorher nie dagewesene Geneigtheit der Unternehmer zu Verhandlungen mit den streikenden Arbeitern, das ist nicht das Ergebnis der Angst vor der „Bombe“, vor den Drohungen der „Kampfkomitees“ der Verschwörer, wie es sich die kindischen „Sozialisten“ vorstellen, die den Klassenkampf mit Hilfe von durch die Post gesendeten anonymen Karten mit „Urteilen“ oder „Drohungen“ erledigen wollen, das ist das Ergebnis der Macht und des Klassenbewußtseins, die unser Industrieproletariat sichtbar für die ganze Welt eben durch diesen langen heldenhaften Massenkampf um die Verbesserung seiner Lage, um seine mit Füßen getretene Menschlichkeit, um ein wenig Licht und Luft in der stickigen Dunkelheit der kapitalistischen Ausbeutung gezeigt hat.

Aber das ist nicht alles. Die ökonomische Bewegung stärkte nicht nur das Klassenbewußtsein des Industrieproletariats, das schon seit langem den revolutionären Kern unserer Arbeiterklasse darstellt, sondern gelangte auch zu ganz neuen Schichten dieser Klasse.

Der am 27. Januar durch die Arbeitermasse begonnene allgemeine Streik ergoß sich bald mit elementarer Kraft in zwei Richtungen. Er schob sich nach oben, in Sphären, die ihrer ganzen Lebens- und Denkweise nach kleinbürgerlich sind, wie die Beamten, Eisenbahner, Photographen, Versicherungsagenten, Apotheker, Bankangestellten und Handlungsgehilfen. Dann floß diese Streikbewegung nach unten, in die ländlichen Sphären, und erfaßte die Landarbeiter. Auf diese Weise reichte

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