Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 558

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ein Wendepunkt in ihrem Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft. Das ist immer eine Periode des plötzlichen Erwachens der Arbeiterschichten zum Klassenbewußtsein.

Und denselben Charakter hatten die ökonomischen Streiks gegenwärtig bei uns im Februar und März.

Die ganze gewaltige Masse der Industriearbeiter, die zum großen Teil schon vorher in einzelnen Produktionszweigen, in Werkstätten und Fabriken sich manchmal bemüht hatte, ihre Lage zu verbessern, stand auf einmal wie von einem starken Druck berührt zum energischen Kampf gegen die Ausbeutung auf. Das ganze den Arbeitern angetane materielle und geistige Unrecht, die unmenschliche Ausbeutung, die elenden Löhne, die übermäßige Arbeit, die rücksichtslose Schädigung der Gesundheit der Arbeitenden, die raffinierten Strafsysteme und die Mißachtung und Beleidigung der menschlichen Würde der Arbeiter durch die Kapitalisten und Meister – dieses den Arbeiter umschlingende Netz der ruinierenden und schändlichen Arbeitsbedingungen, diese ganze Hölle, die das tägliche Schicksal des Proletariers unter dem Joch des Kapitals darstellt, kam ans Tageslicht, trat auf einmal aus dem Halbdunkel der gesellschaftlichen Unterwelt, wo Millionen von Arbeitern wie Maulwürfe leben, arbeiten und leiden, an die Oberfläche.

Diese ganze Masse von Industrieproletariern fühlte auf einmal schmerzhaft und scharf all das ihr angetane Unrecht, das sie gewöhnlich mehr als geduldig erträgt, im Zustand einer passiven Unempfindlichkeit, die klassenmäßige gemeinsame Ungerechtigkeit, die sich mit furchtbarer, erschreckender Eintönigkeit in einem Berufszweig nach dem anderen, in einer Fabrik nach der anderen, in einer Werkstatt nach der anderen wiederholt. Und gerade dadurch, durch das Zusammenfließen all dieser im täglichen Verlauf des Lebens kaum spürbaren bitteren Tropfen einzelner Ungerechtigkeiten zu einem Meer, zu einem großen allgemeinen Ausbruch des ökonomischen Kampfes, dadurch wurde dieser Kampf und war er eine wirkliche Massenbewegung, die der Masse des Proletariats auf einmal tief und lebendig wie mit einem scharfen Stichel das klassenmäßige Gefühl und Bewußtsein einprägte.

Für eine echte Arbeiterpartei wie die Sozialdemokratie, für die die Arbeiter kein Mittel für politische Zwecke sind, sondern eine Klasse, deren Erhebung und Befreiung das Endziel ist, für eine solche Partei kann auch die kleinste Verbesserung des täglichen Schicksals des Proletariats nicht gleichgültig sein. Wenn diese allgemeine ökonomische Streikbewegung in unserem Lande, die von dem allgemeinen politischen Streik

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