Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 55

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stens nicht unmittelbar teilzunehmen braucht, so richtet sich diese direkt gegen den sozialistischen Minister und sein eigenes Werk.

Tatsächlich wird durch die Anhänger Millerands in Frankreich ein Zustand der Verblendung und der Hypnose herbeigeführt, in dem jede sozialpolitische Maßnahme der Regierung von vornherein als ein epochemachendes sozialistisches Werk aufgenommen wird.

Das Gesetz über die Arbeitszeit, das einzige in der Welt, das prinzipiell zwölfjährige Kinder ebenso lange arbeiten läßt wie Erwachsene, dieses Gesetz ist nach Jaurès „einer der größten Fortschritte, die die Arbeiterklasse genießen kann, einer der größten Erfolge des Proletariats“ (Petite République vom 16. Januar 1900), ja „die gesetzliche Wiederherstellung der Einigkeit der Arbeiterklasse!“.[1] (Petite République vom 20. Januar 1900.)

Das Rundschreiben des Handelsministers an die Fabrikinspektoren, worin sie aufgefordert werden, sich mit den Gewerkschaften ins Einvernehmen zu setzen, ist „das kühnste Werk“, „ein denkwürdiges Datum in den Annalen des organisierten Proletariats“. (Gérault-Richard, Petite République vom 21. Januar 1900.)

Das bescheidene Dekret, wonach ortsübliche Arbeitsbedingungen bei den öffentlichen Arbeiten verpflichten sollen, ist ein „sozialistisches Werk Millerands“. (Petite République vom 7. August 1899.)

Das partielle Wahlrecht der Gewerkschaften zu dem Obersten Arbeitsrat – einer von Napoleon III. geschaffenen Institution, die nach der Reform Millerands durch acht verschiedene Wahlmodi zusammengestellt wird, deren Ergründung für einen gewöhnlichen Sterblichen mindestens vier Wochen erfordert, während die Funktion der ganzen Körperschaft in einer Beratung durch fünfzehn Tage im Jahre besteht –, das Wahlrecht eines Drittels der Mitglieder zu dieser bahnbrechenden Institution bildet zusammen mit dem vorhin erwähnten Dekret „sozialistische Setzlinge, gepflanzt in kapitalistischen Boden, die wunderbare Früchte tragen werden“. (Petite République vom 21. Januar 1900.)

Die Verherrlichung jeder Tat Millerands geht bei seinen Anhängern direkt bis zur offenen Verleugnung der eigenen Ansichten. Nachdem Jaurès

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[1] Jaurès malt sogar ein farbenprächtiges Bild, wie alle Arbeiter auf einen Schlag aus der Werkstatt herausschwirren werden – die Mädchen, um sich ihrer wohlerhaltenen Schönheit zu erfreuen, die Mütter, um an die Wiege ihrer Säuglinge zu eilen, die Männer, um sich in ernstem Studium zu Arbeitern der Revolution heranzubilden, und Kinder, um sich an dem großen Licht und der Musik des Waldes zu berauschen. Jaurès hat nur vergessen, daß es um die Zeit, wo die Kinder nach dem Millerandschen Gesetz aus der Fabrik herausschwirren, im Walde bereits ganz dunkel ist und die Vöglein längst eingeschlafen sind. [Fußnote im Original]