Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 54

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Und darin liegt der Schwerpunkt der Frage. Der Eintritt Millerands in das Ministerium wird unter anderem durch den Hinweis auf seine sozialreformatorische Tätigkeit gerechtfertigt. Millerand ist aber tatsächlich nicht nur nicht der Urheber des sozialreformatorischen Werkes des Kabinetts – dieses ergab sich, wie wir gesehen, als eine Existenzbedingung für das radikale Ministerium selbst. Er hat auch den Charakter der Sozialreform nicht bestimmt. Die Verhältnisse haben sich stärker als die Einzelpersonen erwiesen, und der Sozialist, der in eine bürgerliche Regierung eingetreten ist, hat nicht die Sozialpolitik der Regierung zum Werkzeug der sozialistischen Bestrebungen gemacht, sondern ist umgekehrt in seiner Sozialpolitik zum Werkzeug der bürgerlichen Regierung geworden.

Die Sozialreform im bürgerlichen Staate ist, wenn sie auch nicht notwendig so kläglich zu sein braucht, wie es gerade diejenige Millerands trotz seiner besten Absichten ist, von vornherein eine Halbheit, ein Flickwerk. Und es ist dies sehr natürlich. Abgesehen von den ersten Anfängen der Arbeiterschutzgesetzgebung, die überall durch Rücksichten auf die nationale Selbsterhaltung erzwungen werden, ist die Sozialreform in allen kapitalistischen Ländern nur ein Produkt des hartnäckigen und beharrlichen Kampfes zwischen der Arbeiterschaft und den herrschenden Klassen. Nur insofern es aus politischen Rücksichten, zur Befriedigung der durch die sozialistische Partei angestachelten Arbeiterschaft absolut notwendig ist, werden Konzessionen gemacht. Die Anwesenheit eines Sozialisten in der Regierung ändert an dieser Sachlage nicht das geringste. Denn auch ein sozialistischer Minister ist, solange er im bürgerlichen Ministerium figuriert, das heißt solange nicht Interessen der Arbeiterklasse, sondern die des Kapitals im Staate herrschen, an die Zustimmung der bürgerlichen Majorität der Regierung und der Volksvertretung gebunden.

Die Hoffnung also, mit Hilfe des sozialistischen Ministers einen ungeahnten Aufschwung der Sozialreform herbeizuführen, war von vornherein eine die konkreten Verhältnisse ganz außer acht lassende Utopie. Ja umgekehrt, der sozialistische Minister kann dadurch, daß er unbegründete Illusionen und Hoffnungen hervorruft, ein Hindernis für die normale Entwicklung der Sozialreform werden.

Das Hauptmittel, die Sozialpolitik der herrschenden Klassen vorwärtszutreiben, die rücksichtslose Kritik an ihr seitens der sozialistischen Partei wird, sobald ein Sozialist als Vertreter der offiziellen Sozialpolitik auftritt, noch weniger möglich als die Kritik an der Gesamtpolitik der Regierung. Erstreckt sich diese auf Handlungen, an denen der Sozialist wenig-

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