Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 53

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/53

den, ebenso sind bei der in allen Punkten formell paritätischen Sozialreform im Grunde genommen die Arbeiter diejenigen, deren Interessen geopfert werden. Während Millerand die Arbeiter mit mannigfaltigen Repräsentationsrechten zu allerlei paritätischen beratenden Körperschaften (wie der Oberste Arbeitsrat, die Arbeitskammern) beschenkt, die an sich höchstens Hilfsmittel für den selbständigen Arbeiterkampf darstellen, sehen wir ihn zugleich die lebendigen Quellen dieses Kampfes: die Entwicklung der Arbeiterschutzgesetzgebung, die Sicherstellung des Koalitionsrechtes, die freie Entfaltung der gewerkschaftlichen Aktion, unterbinden. Und wenn man von dem sozialpolitischen Werke des Kabinetts sagen kann, daß es, wie dessen politisches Werk, einzig und allein die Abstumpfung der Gegensätze und die Milderung ihrer äußeren Erscheinungsformen anstrebt, so muß man hinzufügen, daß es diesen Zweck hier auf Kosten der Arbeiterinteressen wie dort auf Kosten der Demokratie erreicht.

Daher ist es auch ferner weder Zufall noch Monstrosität, wenn wir zugleich mit der Ausarbeitung von Gesetzen „zum Schutze der Streikenden“ Niedermetzelungen streikender Arbeiter (in Chalon und auf der Insel Martinique), zugleich mit offizieller Ermunterung der Arbeiter, sich zu organisieren, die Verwendung von Soldaten als Streikbrecher sehen (gegenwärtig in Montceau-les-Mines[1], siehe Petite République vom 7. Februar 1901). Es ist dies nicht ein Widerspruch mit der sozialreformatorischen Tätigkeit Millerands, sondern bloß eine logische Ergänzung dazu. Der Grundgedanke dieser Tätigkeit, der gleichzeitige Schutz der Interessen der Arbeiter und der Unternehmer, der ersteren durch illusorische, der letzteren durch materielle Konzessionen, findet seinen handgreiflichen Ausdruck in der gleichzeitigen Ausarbeitung papierener Beglückungsmaßregeln für Arbeiter und der Beschirmung des Kapitals mit der eisernen Realität des Bajonetts.

Die Mängel der Millerandschen Sozialreformen finden also darin ihre erschöpfende Erklärung, daß diese Reformen nur eine getreue Übertragung der allgemeinen leitenden Prinzipien der politischen Aktion der Regierung auf das Gebiet der Sozialpolitik darstellen, mit anderen Worten, daß Millerand tatsächlich nicht als sozialistischer, sondern als radikaler Minister funktioniert.

Nächste Seite »



[1] Im Februar 1901 waren in Montceau-les-Mines die Bergarbeiter für Lohnerhöhung und Verkürzung der Arbeitszeit in den Streik getreten. Kurz darauf wurden 3 000 Soldaten in der Stadt einquartiert, unter deren Schutz im März Mitglieder sogenannter gelber Gewerkschaften die Arbeit aufnahmen. Im Mai 1901 beendeten die Bergarbeiter den Streik, ohne eine Verbesserung ihrer Lage erreicht zu haben.