Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 51

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Urteils zu ihren Gunsten zu erzielen. Der Urteilsspruch des Schiedsgerichts ist also in diesem Falle nicht wie bei seiner freiwilligen Anerkennung in der bisherigen Praxis ein Ausdruck des tatsächlichen, im Kampfe an den Tag gelegten Machtverhältnisses der beiden Seiten. Der Verlauf des Streiks, die größere oder geringere Fähigkeit, ihn länger zu führen, üben auf das Resultat des Schiedsgerichts gar keinen Einfluß, denn dessen Entscheidung wird ohne weiteres bindend.

Welche Rolle spielt demnach der Streik nach dem Millerandschen Gesetzentwurf? Lediglich den eines Signals für den Beginn eines Schiedsgerichts – ein Ergebnis, das ebenso erfolgreich z. B. durch das Heraushängen einer Fahne aus einem Fenster der Werkstatt erreicht werden könnte.

Jetzt erst, im Lichte des obligatorischen Schiedsspruchs, erscheint die epochemachende Wohltat der obligatorischen Streiks in vollem Glanze: Den Arbeitern wird der Schutz gegen die Streikbrecher gewährt, gleichzeitig aber dem Streik jeder Sinn und Zweck genommen. In diesem Lichte gewinnen auch die minutiösen und komplizierten Vorschriften über die Art und Weise der Abstimmung vor, während und nach dem Streik, über das Verhalten der Arbeiter vor und während der Abstimmung etc. ein eigentümliches Interesse. Den einzigen reellen Sinn in diesem chinesischen Zeremoniell behalten in letzter Linie nur die rigorosen Schutzbestimmungen gegen die „Beeinflussung“ der Streikenden durch „unbeteiligte Personen“. Bei der in Frankreich zur Regel gehörenden Leitung der größeren Streiks durch hervorragende Sozialisten, mit Vorliebe durch sozialistische Abgeordnete, bedeuten die erwähnten Vorsichtsmaßregeln des Entwurfs nichts anderes als die Beseitigung der sozialistischen „Hetzer und Aufwiegler“ vom wirtschaftlichen Kampfplatz.

In der Millerandschen Vorlage figuriert der Streik auch nur als eine leere Form, die, wie es in der ministeriellen Begründung offen gesagt wird, nur sozusagen aus Pietät für die Arbeiterklasse und Rücksicht auf ihre Vorurteile vorläufig erhalten bleibt. Die Tendenz und Vollendung des Gesetzes liegt in der endgültigen Abschaffung der Streiks, die in Neuseeland, dem Musterland des Millerandschen Entwurfs, bereits Tatsache ist.

Die neue Reform bedeutet also nicht nur die Sprengung der proletarischen Berufs- und Klasseneinheit im wirtschaftlichen Kampfe und ihre Pulverisierung in einzelne Werkstattzellen, sondern auch die Beseitigung des wirtschaftlichen Kampfes im Rahmen der Werkstattzelle selbst. Als die eigentliche Funktion der Gewerkschaft bleiben die Wahlen zu den Arbeitskammern, die einzige Funktion des Streiks, die Anrufung der Ar-

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