Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 497

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hundert Völkern ihre Sprache genommen, ihr Glaube vergewaltigt, ihre Sitten mit Füßen getreten werden. Die vielen Völker sind nicht reif, sich selbst schiedlich friedlich gemeinsam zu regieren, aber ein Schwarm. höherer und niedrigerer Tschinowniks, einige Dutzend blöder Generale mit roter Wutkinase und ein Rudel verschmitzter Diebe können die Verwaltung aller dieser Völker spielend besorgen. Mit einem Worte: Die hundert Völker würden sich in einem modernen Verfassungsleben binnen zwei Tagen gegenseitig die Haare ausraufen, aber bei dem Knalle der allein-seligmachenden Knute des Absolutismus löst sich plötzlich aller gefährliche Hader in einen harmonischen Versöhnungsreigen auf, nach der alten Melodie:

Tanzt, o Polen – tanzt, o Deutsche,

Alle nach derselben Peitsche[1]

Es ist dies wieder ein kostbares Bekenntnis des Bürgertums, daß es heute wie seit jeher alle wichtigen sozialen und historischen Probleme, alle wirklichen Probleme der Politik und der Staatskunst, die nur irgend über die plumpste Politik des Essens aus der staatlichen Futterkrippe und die ebenso plumpe Kunst der Ausplünderung des Volkes durch parlamentarische Gewaltmittel hinausgehen, nicht anders zu lösen versteht, als indem es mit seinem vielgerühmten Parlamentarismus einpackt und alle Sorgen, die ihm die Weltgeschichte bereitet, einfach vertrauensvoll in die Hände – des Gendarmen legt. Für die soziale Frage – Ausnahmegesetze, für die nationale Frage – die absolutistische Peitsche, so macht man’s in Deutschland, so denkt man’s für Rußland.

Tatsächlich geben schon die jetzigen Ereignisse eine deutliche Lehre, wie das nationale Problem in seiner modernen Gestalt allein gelöst wird und gelöst werden kann. Die gegenwärtige gemeinsame revolutionäre Erhebung des Proletariats – das ist zugleich der erste Akt der Völkerverbrüderung im Zarenreich. Alle Tücken und Nücken des Absolutismus, alle Künste der Völkerverhetzung haben nicht gefruchtet. Kischinew hat nicht gewirkt. Die systematische Brutalisierung der Polen hat nicht geholfen. Die Verfolgung der Unierten und der Katholiken hat versagt – die Arbeiter verschiedener Zungen und Religionen waren alle eins im Kampfe gegen den Zarismus, haben alle gefühlt, daß. in Petersburg Fleisch von ihrem Fleische, Blut von ihrem Blute gemordet werde und gerächt werden müsse. Und damit haben sie zugleich ihre proletarischen Klasseninteressen und die nationalen Interessen ihrer respektiven Völker am besten verfochten.

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[1] Herweghs Werke in einem Band, Berlin-Weimar 1967, S. 156.