Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 496

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bürgerlichen Verfassung einen ganz besonderen Beigeschmack der unbewußten feinen Ironie und Selbstpersiflage. Zum Überfluß hat die Praxis des deutschen wie des französischen wie des italienischen Parlamentarismus zur Genüge gezeigt, daß gerade dieselben Klassen und Parteien, die mit Bedauern über die „Unreife“ der Völker die Achseln zu zucken pflegen, es verstanden haben, das delikate und verwickelte Problem für das „Volk“ äußerst zu vereinfachen – durch all die lieblichen internationalen Praktiken des Wahlschachers und des parlamentarischen Kuhhandels nämlich, die das „Volk“ systematisch in ein urteilsloses und gehorsames Stimmvieh verwandeln. Es steht zu hoffen und ist sogar mit Sicherheit anzunehmen, daß sich auch in dem künftigen befreiten Rußland ein Zentrum, eine nationalliberale Partei, ein Agrariertum finden, die sich des armen, unmündigen „Volkes“ annehmen und es durch die Fährnisse des parlamentarischen Lebens mit fester Hand führen werden – wenigstens in der ersten Zeit, bis sie von der Sozialdemokratie der einträglichen Mühe enthoben und zu allen Teufeln gejagt werden.

Doch nichts verrät so gut den Grad der eigenen politischen „Reife“ der heutigen Bourgeoisie, als wenn sie die Freiheit Rußlands gerade an dem nationalen Problem scheitern sieht. Die vielen Kirgisen, Baschkiren, Lappen usw., die übrigens in ihrer Mehrzahl, wie in jedem modernen Staate verschiedene Stämme und Stammüberbleibsel, an der Peripherie des Staatsgebiets ihr isoliertes und passives Dasein führen, ohne bei dem sozialen und politischen Leben Rußlands mehr mitzusprechen als etwa die Basken in Frankreich oder die Wenden in Deutschland, diese unglücklichen Völker und Völklein stehen der russischen Freiheit im Wege. In der Tat: Wie sollen etwa zwanzig Völker zusammen einen Reichstag, wählen, wie sich miteinander über eine einheitliche Politik verständigen, wie gemeinsame Gesetze beschließen und ausführen? Eine Unmöglichkeit, eine unlösbare Aufgabe, ein Chaos! Deshalb muß es mit der bürgerlichen Freiheit im Zarenreich auf absehbare Zeit nichts werden. Was ist aber dabei mit anderen Worten ausgedrückt? Daß dies selbe unlösbare Problem, das keine Verfassung, kein Parlament, kein bürgerliches Gesetz zu lösen vermag, einzig und allein – durch die schöne Institution des Zarismus gelöst[1] werden kann. Die hundert Völker können offenbar nicht zusammen einheitliche Gesetze machen, aber die Frage ist gleich gelöst, wenn ihnen allen auf hundert Rücken dieselbe Knute ihre Gesetze schreibt! Sie können nimmermehr eine gemeinsame Parlamentssprache finden, aber das Zusammenleben wickelt sich glatt wie ein Spinnrädchen ab, wenn allen den

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[1] In der Quelle: gestört.