Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 495

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sind an sich eine in mehrfacher Hinsicht interessante Erscheinung. Nichts Amüsanteres, als wenn sich ein Harden um die Schicksale der russischen Freiheit sorgt und aus seinem Brockhaus fleißig all die Balten, Polen, Finnen, Juden, Letten, Schweden, Armenier, Tscheremissen, Esten, Baschkiren, Kirgisen, Lappen, Kalmücken und Burjaten abschreibt, um zu dem Schlusse zu kommen, daß das Land der hundert Völker mit seinem Großstadtproletariat, das „beim ersten Schritt ins politische Leben ein Taumelrausch packt“, an dessen Sohle sich „die Raublust“ heftet, und mit seinem Bauerntum, das nicht lesen noch schreiben kann, nimmermehr zu einem parlamentarischen Regime reif sei.

Es ist eigentlich recht merkwürdig, daß von der Höhe oder vielmehr von der Tiefe der bürgerlichen Dekadenz aus jeder Literatenbengel, an dem kein heiler Faden ist, sich berufen fühlt, über die Reife oder die Unreife ganzer Völker letztinstanzliche Urteile zu fällen. Und schließlich, wenn es sich um die eigene Haut handelt, wüßten sicher auch die Kirgisen, die Lappen und die Kalmücken die Antwort jener Karausche zu erteilen, die, befragt darüber, ob sie lieber gebraten oder gesotten werden möchte, kühl entgegnete, daß sie vor allem vorziehen würde, überhaupt nicht verspeist zu werden.

Die größte Komik liegt aber überhaupt in der rührenden alten Einbildung der Bourgeoisie, es gehöre Gott weiß welche politische „Reife“ dazu, um des tiefsinnigen Mysteriums des bürgerlichen Parlamentarismus teilhaftig zu werden. Wie sollte in der Tat ein einfacher russischer oder polnischer Fabrikarbeiter, ja ein Bauer in aller Welt verstehen, sich auf die schwindelnden Höhen der bürgerlich-parlamentarischen Politik aufzuschwingen? Jeder ordinäre Börsenjobber, jeder fettwanstige Kommerzienrat, jeder stupide Ostelbier, der nur mit der Reitpeitsche und im Kuhstall Bescheid weiß, ist natürlich zum Entscheiden über innere und äußere Politik der Staaten wie geschaffen, aber ein Proletarier, ein einfacher Bauer, „der nicht lesen noch schreiben kann“?!

Wenn diese Renommisterei je einigen Eindruck machen und einigen Glauben finden konnte, so war es höchstens in jenem ersten Taumel der bürgerlichen Demokratie, als sie noch mit der herrlichen Frucht des Parlamentarismus schwanger ging. Nun aber, nach einer etwa fünfzigjährigen parlamentarischen Praxis der kapitalistischen Länder, nachdem bereits alle Welt hinter das große Geheimnis von Sais geblickt und sich überzeugt hat, daß hinter dem Vorhang aber auch gar nichts steckt, was die normalen geistigen Kräfte eines ganz gewöhnlichen Sterblichen übersteigen würde, heute hat das Thema von der politischen Reife des russischen Volkes zur

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