Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 498

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Die bürgerlich-nationalen Bewegungen haben ihre Ohnmacht gegenüber dem Absolutismus bewiesen. Die polnischen Aufstände[1] vermochten seinerzeit trotz der furchtbarsten Opfer nicht nur den Zarismus in Rußland nicht zu erschüttern, sondern nicht einmal die kümmerlichen autonomen konstitutionellen Freiheiten Kongreßpolens[2] vermochten sie zu schützen. Die Finnländer[3] lebten fast ein Jahrhundert in ihrem nördlichen Winkel hinter den chinesischen Mauern ihrer geschichtlichen, sozialen, sprachlichen und politischen Abgeschlossenheit und kümmerten sich nicht im geringsten um das übrige Zarenreich und seine inneren revolutionären Kämpfe, in dem Wahne, daß an ihre „verbriefte und vereidigte“ konstitutionelle Autonomie keine Stürme aus Rußlands Steppen heranreichen können. Beide Länder ereilte dann trotz entgegengesetzten Verhaltens dasselbe Schicksal: Polen, ungeachtet seiner stürmischen nationalen Unabhängigkeitskämpfe, Finnland, ungeachtet seiner vornehm-zurückhaltenden „Loyalität“ im Verhältnis zum zweiköpfigen Adler, verloren beide nacheinander den letzten Rest ihrer partikularistischen Freiheiten; ihre konstitutionelle Autonomie wurde von der Despotie des Stammrußlands aufgesogen. Die Geschichte des Martyriums aller Nationalitäten unter dem russischen Joche hat eines bewiesen: daß es keine autonomen Freiheiten auf irgendeinem Teile des Staatsgebiets geben könne, solange an den Stamm der Despotie nicht auch in Petersburg selbst die Axt gelegt wird. Diese Aufgabe ist aber ihrerseits wiederum als geschichtliche Klassenaufgabe dem vereinigten Proletariat aller Nationalitäten im Zarenreich zugefallen.

Und so ist heute in Rußland wie bereits in Österreich nicht bloß die bürgerliche Freiheit, sondern auch der Völkerfriede durch das klassenbewußte Proletariat allein vertreten. Es ist heutzutage ein öffentliches Geheimnis, daß Österreich nicht an der Vielheit der Nationalitäten, also gleichsam an einer vis major zugrunde geht, wie sich der Bierbankpolitiker bequemlichkeitshalber zu trösten liebt, sondern an dem wahnwitzigen Regierungs- und Verfassungssystems, das die Herrschaft in die Hände von Klassen und Parteien legt, deren Lebensaufgabe es ist, die Nationalitäten hintereinanderzuhetzen, während es die einzige Klasse und Partei vom politischen Einfluß ausschließt, die in diesem Falle wahrhaft „staatserhaltend“ ist, weil sie auf die Aussöhnung und Zusammenfassung der Nationalitäten hinarbeitet – die sozialdemokratische Arbeiterklasse.

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[1] Siehe Bd. 1/1, S. 33, Fußnote 2 u. S. 96. Fußnote 1.

[2] Siehe Bd. 1/1, S. 6, Fußnote 1.

[3] Seit Anfang des 19. Jahrhunderts gehörte Finnland als autonomes Großfürstentum mit eigenem Landtag und Senat zu Rußland. Seit Ende des 19. Jahrhunderts versuchte der Zarismus verstärkt, Finnland die Autonomie zu nehmen und es völlig zu unterwerfen.