Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 49

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bung, so führt diese ein gänzlich neues Prinzip: den Streikzwang, ein. Weiter als hier kann offenbar eine Reform unmöglich gehen. Der Sprung von der „Zuchthausvorlage“[1] zu der Millerandschen Streikvorlage ist ein so gewaltiger, daß man dabei schon einen ganzen Zipfel des Zukunftsstaats zu sehen bekommt. Und war jene ein Messer, mit dem man dem Arbeiter an die Gurgel wollte, so ist diese eine Waffe, mit der der wirtschaftlichen Allmacht des Kapitals der Garaus gemacht wird. „Der Unternehmer“ – das haben auch einige unserer Parteiblätter auf den ersten Blick erkannt – „hört auf, Herr im eigenen Hause zu sein.“

Freilich entstehen bei etwas aufmerksamem Betrachten der Vorlage verschiedene schwere Bedenken. Die Anwendung des projektierten Gesetzes ist nur in Staatsbetrieben gesichert, in den Privatbetrieben hängt sie jederzeit vom freien Ermessen des Unternehmers ab. Die tödliche Waffe gegen das Kapital wird also dem Kapitalisten in den Schrank gelegt. Die Minderheit der Arbeiterschaft soll sich ferner nach der ausdrücklichen Bestimmung des Gesetzes dem Streikbeschluß der Mehrheit fügen, aber das Gesetz kennt keine Strafen für den Fall, daß sie sich dem Beschluß nicht fügt, sondern weiterarbeitet. Das dem Unternehmer zum Zwecke des Selbstmordes eingehändigte scharfe Messer hat bei näherem Zusehen eigentlich keine Klinge. Endlich haben die Arbeiter allerdings das Recht, wenn sie das Einigungsverfahren erfolglos angerufen, mit Majorität den Streik zu beschließen, der Unternehmer hat aber nach wie vor die Möglichkeit, die Arbeiter allesamt und jeden besonders ohne alles vorhergehende Einigungszeremoniell mitten im Streik oder nach dem Streik zum Teufel zu jagen und durch andere zu ersetzen. Dem gefährlichen Messer fehlt also in letzter Linie außer der Klinge auch noch das Heft.

Aber diese wie die anderen Millerandschen Reformen gibt dem Arbeiter nicht nur mit der einen Hand Illusionen, sondern sie nimmt ihm auch mit der anderen faustdicke Realitäten.

Nach der Bestimmung des Gesetzentwurfes entscheiden jedesmal über den Streik, also auch über die zu formulierenden Forderungen, nur die in einem Betriebe oder in einer Werkstatt beschäftigten Arbeiter. Als Kontrahent bei der Arbeitsvertragsschließung tritt also dem Unternehmer nicht die Gewerkschaft, sondern die Arbeiterschaft der Werkstatt entgegen. Auf diese Weise werden aber sowohl die Hebung der einzelnen Arbeitsgruppen durch gewerkschaftliche Verallgemeinerung der weitestgehenden Errungenschaften und Forderungen wie eine allgemeine Streikaktion im Berufe und über dessen Grenzen hinaus, namentlich die in Frankreich so

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[1] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.