Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 489

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steht, über die „mißlungene Revolution“, über ergebnisloses „Strohfeuer“ der Petersburger Erhebung eifern, weil der Absolutismus formell noch existiert, die konstituierende Versammlung noch nicht einberufen ist und die heute noch streikenden Massen wahrscheinlich morgen äußerlich in den Alltag zurückkehren werden. Tatsächlich haben die Ereignisse der letzten Woche durch die Existenz der russischen Gesellschaft einen Riß gemacht, der nie mehr zugekittet werden kann. Es ist nicht mehr derselbe Zarismus, nicht mehr dieselbe Arbeiterklasse, nicht mehr dieselbe Gesellschaft, die aus dem revolutionären Strudel hervorgehen. Der Zarismus hat innerlich seinen Todesstoß bereits erhalten, und seine Weiterexistenz, wie kurz oder lang sie auch sein mag, kann nur eine Agonie sein. Er hat zum erstenmal Auge in Auge mit derjenigen Volksklasse gestanden, die berufen ist, ihn zu stürzen. Er hat vor der ganzen Welt dargetan, daß er nicht mehr dank der Passivität, sondern nur noch gegen den positiven Willen derjenigen Volksschicht existiert, deren Wille politisch ausschlaggebend ist. Die Arbeiterklasse hat zum erstenmal als Ganzes offen gekämpft und die politische Führung der Gesellschaft gegen den Absolutismus an sich gerissen. Auch die letzte Waffe der brutalen Gewalt, mit der der Absolutismus heute noch knapp gesiegt hat, ist gerade durch diesen Gebrauch schartig geworden: Das Militär ist sicher durch den Bürgerkrieg so stark demoralisiert und politisch aufgerüttelt worden, wie es Jahrzehnte geheimer Kasernenagitation nicht hätten tun können. Noch einmal darf der Zarismus eine militärische Kraftprobe mit dem eigenen Volke kaum riskieren.

Und nun beginnt erst die eigentliche Aufgabe der Sozialdemokratie, um den revolutionären Zustand in Permanenz zu erhalten. Ihre Pflicht ergibt sich von selbst aus der Neigung der politischen Kurzsichtigkeit, den Mißerfolg und das Ende des Kampfes dort zu erblicken, wo erst der Anfang der Revolution ist. Der pessimistischen Niedergeschlagenheit der Arbeitermasse entgegenzuwirken, auf die die Reaktion spekuliert, den inneren Sinn und die enormen Ergebnisse der ersten Attacke dem Proletariat klarzumachen, dem Katzenjammer vorzubeugen, der sich gewöhnlich der Masse in bürgerlichen Revolutionen zu bemächtigen pflegt, sobald der Zweck der Revolution nicht sofort sichtbar erreicht ist, und der sich ganz zweifellos der liberalen Helden in Rußland schon morgen bemächtigen wird, dies ist die reichliche Arbeit, die sich zunächst für die Sozialdemokratie eröffnet. Die Sozialdemokratie vermag weder in Rußland noch sonst in der Welt historische Momente und Situationen künstlich zu schaffen, wie sich jugendliches Maulheldentum vielleicht einbilden mag. Aber was sie kann und muß, ist, die jeweilige Situation ausnutzen, indem sie ihren

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