Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 488

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stupidem Gesichtsausdruck, der, erst gestern vom Lande gekommen, ein fremder Gast in der modern-städtischen Kulturwelt ist. Man hat gar nicht bemerkt, wie sich die kulturelle und geistige Hebung des russischen Proletariats durch den Kapitalismus und sodann durch die sozialdemokratische Aufklärungsarbeit unter der Bleidecke des Absolutismus vollzogen, wie sich der Muschik von gestern in den intelligenten, wissensdurstigen, idealistischen, kampfbereiten, ehrgeizigen Großstadtproletarier von heute verwandelt hat. Und wenn man bedenkt, daß die eigentliche sozialdemokratische Agitation in Rußland kaum fünfzehn Jahre dauert, daß der erste Versuch eines gewerkschaftlichen Massenkampfes in Petersburg vom Jahre 1896[1] datiert, so muß das Tempo der inneren Minierarbeit des sozialen Fortschritts geradezu als ein rasendes erkannt werden. Alle schleppenden Nebel und brauenden Dämpfe der Stagnation sind vom proletarischen Gewitter plötzlich zerrissen und weggefegt worden, und wo gestern noch eine rätselhafte Zwingburg des starren, jahrhundertealten Stillstandes gespenstisch zu ragen schien, steht vor uns heute ein von modernsten Stürmen zerwühltes, durchbebtes Land, von dem ein gewaltiger Feuerschein auf die gesamte bürgerliche Welt ausgeht.

Es ist eine gründliche Lektion revolutionären Optimismus, die uns durch die Petersburger Ereignisse erteilt wird. Durch tausend Hindernisse, durch alle mittelalterlichen Bollwerke, ohne alle modernen politischen und sozialen Lebensbedingungen setzt sich das eherne Gesetz der kapitalistischen Entwicklung in die Klassengeburt, das Wachstum und das Bewußtsein des Proletariats siegreich durch. Und erst in vulkanischen Ausbrüchen der Revolution zeigt sich, wie rasch und gründlich der junge Maulwurf gearbeitet hat. Wie lustig arbeitet er erst der westeuropäischen bürgerlichen Gesellschaft unter den Füßen! Die politische Reife und die latente revolutionäre Energie der Arbeiterklasse mit Wahlstatistiken oder Gewerkschafts- und Wahlvereinsziffern messen wollen heißt an den Montblanc mit dem Schneiderzentimeter [maß] herantreten. Wir wissen gar nicht in den sogenannten Normalzeiten des bürgerlichen Alltags, wie mächtig unsere Ideen bereits Wurzel gefaßt, wie stark das Proletariat und wie innerlich morsch der Aufbau der herrschenden Gesellschaft bereits ist. Und alle Schwankungen und Verirrungen des Opportunismus laufen im letzten Grunde auf eine falsche Rechnung mit den Kräften der sozialistischen Bewegung, auf eine subjektive Illusion der Schwäche hinaus.

Mag deshalb platte Kleingeisterei, die nur den kupfernen Pfennig des sofortigen materiellen greifbaren Erfolges mit der Hand zu fassen ver-

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[1] Siehe S. 432. Fußnote 1.