Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 487

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Glied in die internationale Familie des kämpfenden Proletariats eingetreten.

Daß diese gewaltige Tatsache für den bürgerlichen Literaten nicht existiert, der sich darauf beschränkt, das befürchtete Martyrium Maxim Gorkis[1] schleunigst zur gemeinen Münze mossischer Reklamezwecke auszuprägen, ist nicht mehr wie in der Ordnung. Will man gar in reinster Form die grotesken Sprünge der bürgerlichen „Intelligenz“ vom heutigen Tage vor dem historischen Drama an der Newa spaßeshalber einmal betrachten, so braucht man nur die in allen Farben des „modernen“ Dekadenzspülichtes schillernde „Zukunft“ des Herrn Harden nehmen, der um die Wette mit Trepows Telegraphenagenturen schwarz auf weiß beweist, daß der jetzige politische Zustand Rußlands „dem Bedürfnis der russischen Masse genügt“, .die „armen“, von Demagogen „missbrauchten“ Petersburger Arbeiter als fromme und treuherzige Zarenlämmer vor der Welt rehabilitiert und den Todesmarsch der 2000 um die Freiheit ringenden Proletarier für ein Kinderspiel gegen die Dekabristenrevolte[2] vor achtzig Jahren erklärt, in der „sogar Gardeoffiziere“ schon einmal die Republik ausgerufen hätten. Bürgerliche Normalschädel waren in ihrer besten Zeit nicht dazu gemacht, die historische Größe proletarischer Kämpfe zu fassen. Es werden dazu am allerwenigsten die Zwergschädel der Verfallsbourgeoisie berufen sein.

Aber auch für die internationale Sozialdemokratie ist die Erhebung des russischen Proletariats ein neues Phänomen, das man sich erst geistig assimilieren muß. Wir sind alle, mögen wir noch so dialektisch denken, in unseren unmittelbaren Bewußtseinszuständen unverbesserliche Metaphysiker, die an der Unwandelbarkeit der Dinge kleben. Und obwohl wir die Partei des sozialen Fortschritts sind, so ist für uns selbst jede gesunde Portion Fortschritt, die unsichtbar vor sich gegangen und nun plötzlich im fertigen Resultat vor uns ersteht, eine Überraschung, an die wir erst hinterdrein unsere Vorstellungen anpassen müssen. In der Vorstellung gar manches Sozialdemokraten Westeuropas lebt der russische Proletarier immer noch als der Muschik, der Bauer, mit langem Flachshaar, Fußlappen und

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[1] Maxim Gorki, wegen seiner Teilnahme am Kampf des revolutionären Proletariats schon mehrfach den Repressalien der zaristischen Behörden ausgesetzt, war nach der Demonstration der Arbeiter in Petersburg am 22. Januar 1905 (siehe S. 479, Fußnote 1) verhaftet worden. Am 27. Februar wurde er gegen Kaution freigelassen.

[2] Die Dekabristen, „adlige Revolutionäre“ (Lenin), die aus Furcht vor der Aktivität der Volksmassen isoliert vom Volk handelten, batten am 14. Dezember 1825 in Petersburg einen Militäraufstand gegen den zaristischen Absolutismus und die Feudalherrschaft organisiert, der noch am gleichen Tage von zaristischen Truppen niedergeschlagen wurde.