Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 486

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nach dem Blutbad vom 22. Januar den ausgesprochenen Charakter einer politischen Klassenerhebung des Proletariats erhalten. Denn gerade das Echo, das die Petersburger Ereignisse sofort in anderen Industriestädten und Gegenden Rußlands gefunden, ist der beste Beweis, daß es sich in Petersburg nicht um eine isolierte blinde Verzweiflungsrevolte einer bestimmten Arbeiterschaft handelte, wie deren mehrere und blutige unter der russischen Bauernschaft von Zeit zu Zeit seit jeher vorkommen, sondern daß es ein Ausdruck derselben Gärung und derselben Bestrebungen war, die in den Industriearbeitern im ganzen Reiche lebendig sind. Eine derartige bewußte, offene Solidaritätsaktion, und zwar politische Solidaritätsaktion, der Arbeiterschaft in den verschiedenen Städten und Gegenden Rußlands hat es noch nicht gegeben, seit das Zarenreich existiert. Auch nicht die Maifeier, deren Idee in Rußland mächtig gewirkt, hat es je vermocht, eine annähernd zusammenhängende Massenkundgebung hervorzurufen. Erst der unmittelbare Kampf hat sie plötzlich zur Tat werden lassen und zum erstenmal bewiesen, daß die Arbeiterklasse im Zarenreich nunmehr nicht bloß ein abstrakter Begriff oder ein mechanisches Aggregat isolierter Proletariergruppen mit gleichartigen Interessen und parallelen Bestrebungen ist, sondern ein organisches, aktionsfähiges Ganzes, eine politische Klasse mit gemeinsamem Willen und gemeinsamem Klassenbewußtsein. Seit den Kämpfen der letzten Woche gibt es im Zarenreich nicht mehr zersprengte russische Arbeiter im Norden, im Süden, im Osten, lettische, jüdische, polnische Proletarier, die, jeder Trupp für sich, an den Ketten der gemeinsamen Sklaverei rütteln. Dem Zarentum gegenüber steht heute eine geschlossene proletarische Phalanx, die durch die ungeheuren Opfer im Kampfe bewiesen hat, daß sie das uralte Losungswort der Regierungsweisheit jedes Despotismus: divide et impera, gründlich zu durchkreuzen verstanden hat und die durch das vergossene Blut viel wirksamer als durch alle papierenen „Verträge“ geheimer Parteikonventikel zu einer revolutionären Klasse zusammengekittet worden ist.

Darin liegt der bleibende Wert der letzten Januarwoche, die in der Geschichte des internationalen Proletariats und seines Emanzipationskampfes eine epochemachende ist. Das Proletariat Rußlands hat zum erstenmal die politische Bühne als selbständige Macht beschritten, hat in der Schlächterei des 22. Januar seine historische Bluttaufe erhalten wie das Pariser Proletariat in der Junischlächterei[1] und ist als neues aktives

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[1] Im Juni 1848 batte sich das Pariser Proletariat gegen die französische Bourgeoisie erhoben, die die Nationalwerkstätten schließen ließ. Etwa 113 000 Arbeiter blieben dadurch ohne Arbeit und Einkommen. Bourgeoisie, Kleinbürger und Monarchisten standen geschlossen gegen den Aufstand, der nach drei Tagen von der militärischen Übermacht blutig niedergeschlagen wurde.