Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 479

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Romanen herrührt und die mit gleichmäßig wohlwollender Ignoranz über die sozialen Probleme beider Hemisphären hinweggleiten. Es wäre andererseits offenbar auch eine gar zu magere Ausbeute an politischer Weisheit und geschichtlicher Lehre, wenn wir als den ersten und wichtigsten Schluß aus der Petersburger Revolution mit der Jaurèsschen „Humanité“ die für den russischen Absolutismus wahrhaft niederschmetternde und für das Weltproletariat erquickende Sicherheit schöpfen wollten, daß der letzte Romanow nach dem Petersburger Blutbad[1] für die bürgerliche Diplomatie sozusagen salonunfähig geworden sei und von keinem „konstitutionellen Monarchen“ oder „republikanischen Staatsoberhaupt“ einer Allianz mehr für würdig gehalten werden dürfe.

Vor allem aber wäre es völlig verkehrt, wollte die Sozialdemokratie Westeuropas mit dem abgeschmackten Kopfschütteln Ben Akibas in der russischen Umwälzung bloß eine geschichtliche Nachäffung dessen erblicken, was in Deutschland und Frankreich schon längst „dagewesen“. Im Gegensatz zu Hegel kann vielmehr mit weit größerem Rechte gesagt werden, daß sich in der Geschichte nichts zweimal wiederholt. Die russische Revolution, die formell nur für Rußland dasjenige nachholt, was die Februar- und Märzrevolution für das westliche und mittlere Europa vor einem halben Jahrhundert vollbracht hat, ist jedoch zugleich – gerade weil sie ein stark verspäteter Nachzügler der europäischen Revolutionen – ein ganz besonderer Typus für sich.

Rußland tritt auf die revolutionäre Weltbühne als das politisch zurückgebliebenste Land; es kann vom Standpunkte der bürgerlichen Klassenentwicklung mit dem vormärzlichen Deutschland keinen Vergleich aushalten. Allein gerade deshalb trägt, entgegen allen landläufigen Ansichten, die jetzige russische Revolution den ausgesprochensten proletarischen Klassencharakter von allen bisherigen Revolutionen. Freilich, die unmittelbaren Ziele der heutigen Erhebung in Rußland gehen nicht über eine bürgerlich-demokratische Staatsverfassung hinaus, und das Schlußergebnis der Krise, die vielleicht und höchstwahrscheinlich noch jahrelang mit raschem Wechsel von Flut und Ebbe dauern kann, wird womöglich nichts anderes als eine kümmerliche konstitutionelle Verfassung sein. Und doch ist die Revolution, die zur Geburt dieses bürgerlichen Wechselbalgs geschichtlich verdammt ist, eine so rein proletarische wie noch keine vorher.

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[1] Am 22. Januar 1905 demonstrierten in Petersburg 140 000 Arbeiter mit einer Bittschrift, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten, zum Winterpalais. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen. Über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.