Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 478

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wer hat ihn „hervorgerufen“? Wenn irgendwo, so war in diesem Falle alles, was an Arbeiterschaft ganz oder teilweise klassenbewußt und organisiert ist – konfessionelle Gewerkvereine, freie Gewerkschaften, Sozialdemokratie –, bestrebt und bemüht, die Erhebung eher zu verhindern als sie zu provozieren. Wäre es nur ein großer Streik, ein umfangreicher Lohnkampf gewesen, wie sie von Zeit zu Zeit ausbrechen, dann hätte er auch vielleicht vereitelt, hinausgeschoben, zerbröckelt werden können. Da aber die Bewegung im Ruhrgebiet in ihrem ganzen Charakter – in der Mannigfaltigkeit der Momente, die ihr zugrunde liegen und die in ihrer Totalität das ganze Dasein des Minenproletariats erschöpfen, in der Unbestimmtheit ihres unmittelbaren letzten Anlasses – nicht ein partieller Kampf gegen diese oder jene Teilerscheinung, sondern im Grunde genommen eine Erhebung des Lohnsklaven gegen die Kapitalsherrschaft als solche in ihrer nacktesten Gestalt ist, so brach sie wie ein atmosphärisches Gewitter mit Elementargewalt aus. Dem bewußten organisierten Teile des Proletariats blieb nur die Wahl, sich an die Spitze der Sturmflut zu stellen oder von ihr auf die Seite geschleudert zu werden. Und der Generalstreik im Ruhrgebiet ist deshalb ein typisches, lehrreiches Exempel der Rolle, die der Sozialdemokratie als Partei auch in den früher oder später bevorstehenden proletarischen Erhebungen überall zufallen wird, ein Exempel, das alle behaglichen literarischen Disputationen darüber, ob wir die soziale Revolution „machen“ oder aber diese „veraltete“, „unzivilisierte“ Methode des Kampfes zum alten Eisen werfen und lieber uns fleißig weiter ins Parlament wählen wollen, in ihrer ganzen Lächerlichkeit aufzeigt.

Dieselbe historische Lehre in anderer Form gibt uns in diesem Augenblick Petersburg. Große revolutionäre Ereignisse haben die Eigentümlichkeit, daß sie, sosehr sie im großen und ganzen vorausgesehen, erwartet worden sein mögen, doch stets, sobald sie da sind, in ihrer Kompliziertheit, in ihrer konkreten Gestalt als eine Sphinx, ein Problem vor uns erstehen, das in jeder Faser begriffen, ergründet, gelernt werden will. Und vollends ist es klar, daß der gegenwärtigen russischen Revolution auf keinen Fall beizukommen ist mit Phrasen von „krachenden Eisschollen“, „unendlichen Steppen“, „stumm weinenden müden Seelen“ und dergleichen krachenden belletristischen Redensarten im Geiste bürgerlicher Journalisten, deren ganze Wissenschaft über Rußland aus der jüngsten Theatervorstellung des Gorkischen „Nachtasyls“ oder aus ein paar Tolstoischen

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