Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 480

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Vor allem fehlt in Rußland gänzlich diejenige Gesellschaftsklasse, die in allen bisherigen modernen Revolutionen die größte, die führende Rolle spielte, indem sie, ökonomisch und politisch eine Zwischenschicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zum revolutionären Bindeglied für beide wurde, den radikalen und demokratischen Charakter der bürgerlichen Klassenkämpfe bedingte, dadurch das Proletariat für den Heerbann der Bourgeoisie gewann und so den notwendigen materiellen Mechanismus der bisherigen Revolutionen herstellte. Wir meinen das Kleinbürgertum. Dieses war zweifellos der lebendige Kitt, der in den europäischen Revolutionen die verschiedensten Schichten zu einer Aktion zusammenschweißte, der in Klassenkämpfen, die ihrem geschichtlichen Inhalt nach Bewegungen der Bourgeoisie waren, als Schöpfer und Träger der notwendigen Fiktion vom gesamten „Volke“ fungierte. Dasselbe Kleinbürgertum war auch der politische, geistige, intellektuelle Erzieher des Proletariats, und gerade in jener Februarrevolution, in der das Pariser Proletariat zum erstenmal klassenbewußt aufgetreten ist und sich von der Bourgeoisie geschieden hat, ist der Einfluß des Kleinbürgertums am stärksten zum Vorschein gekommen.

In Rußland existiert ein Kleinbürgertum im modernen europäischen Sinne gar nicht. Es gibt zwar ein kleinstädtisches Bürgertum, doch ist dieses gerade der Hort der größten politischen Reaktion und geistigen Barbarei.

Eine ungefähr analoge Rolle zum Kleinbürgertum der westeuropäischen Staaten spielt freilich in Rußland die umfangreiche Schicht der Intelligenz der sogenannten liberalen Berufe. Sie ist es, die sich der politischen Erziehung des arbeitenden Volkes seit jeher massenhaft hingibt. Allein, diese Intelligenz selbst ist nicht, wie ehemals in Deutschland und Frankreich, die ideologische Vertretung bestimmter Klassen der liberalen Bourgeoisie und des demokratischen Kleinbürgertums. Denn die Bourgeoisie in Rußland ist wiederum als Klasse Trägerin nicht des Liberalismus, sondern des reaktionären Konservatismus oder, was eigentlich noch schlimmer, der völligen reaktionären Passivität. Der Liberalismus seinerseits ist in dem sozialen Hexenkessel Rußlands nicht aus einer modern-bürgerlichen, fortschrittlichen Tendenz des industriellen Kapitalismus hervorgewachsen, sondern vielmehr aus dem freihändlerisch gesinnten, durch die forcierte staatliche Pflege des Kapitalismus zur Opposition getriebenen agrarischen Adel. Damit ist schon im voraus gegeben, daß dieser russische Liberalismus weder in sich die revolutionäre Kraft einer gesunden modernen Klassenbewegung noch jene natürliche Affinität und jene sozialen Berührungspunkte mit der Arbeiterklasse hat, die zwischen der liberalen indu-

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