Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 475

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chen zerpflückt und damit ihrer wissenschaftlichen Leere einige Brocken wirklichen Wissens einfügt. In seiner ganzen Größe und seinem revolutionären Geist kann auch das neue Werk von Marx nur in dem kämpfenden Proletariat lebendig werden.

Auf den ersten Blick scheint freilich der Zusammenhang zwischen einer kritischen Geschichte der bürgerlichen Nationalökonomie und dem Tageskampf der Sozialdemokratie schwer zu erfassen sein, wie denn überhaupt das lebendige Gefühl für die Bedeutung der Theorie in dem mächtig in die Breite gewachsenen Strom der proletarischen Bewegung in der letzten Zeit nicht deutlich genug zutage tritt. Zweifellos ist der ganze Kampf der Sozialdemokratie von der Marxschen Einsicht in die sozialen Bedingungen und Ziele beseelt, wie etwa ein auf ein bestimmtes Geleise gestellter Zug schon durch das Gesetz der Trägheit die vorgeschriebene Bahn befolgt. Allein, die praktische Kleinarbeit und das wirtschaftliche und politische Scharmützel des Tages drohen immer mehr den unumgänglichen bewußten Prozeß der Umbildung, Umwertung der ganzen Gedankenwelt des Proletariats im Geiste der revolutionären Marxschen Weltanschauung in den Hintergrund zu drängen. Wie sehr aber dieser Prozeß eine unaufhörliche, dringende Notwendigkeit ist, das hat unter anderem in den letzten Tagen wieder ein Fall dargetan, wo ein mit Amt und Würden bekleideter, also formell zur Vertretung der Partei und Erziehung der Massen berufener Sozialdemokrat die Theorie von einem metaphysischen „religiösen Gefühle“ entwickelte, das in jeder Menschenbrust wohne, und von der Notwendigkeit, auch in Zukunft dem Volke die Religion ohne die Pfaffen zu erhalten, gewissermaßen eine Theorie der „Aushöhlung“ der Kirche, die sich in voller Analogie zu der famosen Theorie der Aushöhlung des Kapitalismus befindet und mit ihr die volle Entfremdung von der materialistischen Geschichtsauffassung zur gemeinsamen Wurzel hat. Derselbe Fall wie so viele andere zeigt deutlich, daß es unsere Aufgabe ist, nicht bloß möglichst breite Massen für die formelle Anerkennung des Programms der Sozialdemokratie zu gewinnen, sondern die Denkweise dieser Massen, vor allem also unserer Agitatoren, von Grund aus durch die Marxsche Lehre zu revolutionieren. Nur auf diese Weise und nicht bloß durch die Aufnahme der frischen Truppen in die Wählermassen der Sozialdemokratie, in die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen wird die geistige Loslösung des Proletariats von der Herrschaft der Bourgeoisie und von ihrer Klassenkultur vollzogen.

In diesem Sinne ist das neue Buch von Marx ein reicher Born geistiger Anregungen, der namentlich die intellektuellen Kräfte desjenigen bedeu-

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