Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 46

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Die Geopferten sind aber außer den Kindern auch noch die Erwachsenen. Nicht nur bildet der besondere Schutz der Kinderarbeit in Wirklichkeit bei einigermaßen brauchbarer Inspektion kein Hindernis zur Ausführung der gesetzlichen Bestimmungen über die Arbeitszeit. In allen Ländern werden diese Bestimmungen trotz der überall kürzeren Arbeitszeit der Kinder ausgeführt, und nur in der französischen Kammer durfte ein Minister das Gegenteil behaupten, ohne allgemeines Hohngelächter zur Antwort zu bekommen. Der besondere Kinderschutz spielt obendrein eine äußerst wichtige Rolle für den Schutz der Erwachsenen. Die Verkürzung der Kinderarbeit zieht nämlich, wie die Geschichte aller Industrieländer, vor allem Englands, zeigt, mechanisch auch die Beschränkung der Arbeit der Erwachsenen nach sich. Der vorausschreitende Kinderschutz funktioniert als Triebfeder der Entwicklung und des Fortschritts des Arbeiterschutzes im ganzen.

Indem Millerand also die Arbeitszeit der Kinder an die der Erwachsenen kettet und alle natürlichen Kategorien der Arbeiter mit einem kühnen bürokratischen Federstrich nivelliert, hat er die französische Arbeiterschutzgesetzgebung nicht nur sozialpolitisch hinter die aller anderen Länder geschoben, sondern sie gleich in den ersten Stadien ihrer Entwicklung in den Zustand der Starrheit versetzt. Ob und wie der allgemeine Maximalarbeitstag angewendet wird, die gleiche Arbeitsdauer für alle Kategorien der Arbeiter ist nun zur Regel für die französischen Industriebetriebe geworden. Der bevorstehende zehnstündige Arbeitstag für Erwachsene ist in seiner Ausführung das Ungewisse, mit der Richtung der jeweiligen Regierung und ihrer Organe Wechselnde, die Ausgleichung der Arbeit der Kinder mit der der Erwachsenen – das ist das Prinzipielle, das Bleibende der neuen Reform.[1]

Schon die erste der wichtigsten Millerandschen Maßnahmen zeigt uns also die Zwieschlächtigkeit seiner Reformarbeit in besonderem Lichte: Während er der Arbeiterschaft zweifelhafte und illusorische Errungenschaften gewährt, legt er ihr ganz zweifellose, handgreifliche Opfer auf.

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[1] Wir bekommen übrigens soeben einen neuen interessanten Beitrag zu dem besprochenen Gesetz. Die „Petite République“ vom 9. Februar bringt den Entwurf eines Dekrets von Millerand, in dem eine ganze Reihe von ausnahmsweisen Verlängerungen der Arbeitszeit der Erwachsenen (um 1 bis 2 Stunden) in gemischten Betrieben vorgesehen ist. Ausnahmen von der gesetzlichen Arbeitsdauer sind an sich eine ständige Erscheinung in der Praxis des Arbeiterschutzes. Wenn aber Millerand, nachdem er die gleiche Arbeitsdauer der Kinder und der Erwachsenen zur Grundlage seines Gesetzes gemacht hat, hinterdrein durch Dekrete die Arbeitszeit der Erwachsenen wieder verlängert, so beweist er, daß es ihm entweder mit der Ausführung seines Gesetzes oder mit der Begründung, die er dem Gesetz gab, nicht ernst ist. In beiden Fällen erscheinen die Opfer der Fabrikkinder als vergeblich. [Fußnote im Original]