Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 45

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/45

eines komplizierten Schichtensystems beantwortet, in dem die Arbeitshände nach dem Marxschen Ausdruck wie Karten untereinander gemischt wurden und die Kontrolle der Durchführung des Gesetzes fast unmöglich war.

Wenn also nun der gesetzliche Arbeitstag der Kinder um eine Stunde verlängert wurde, so war das Opfer, wie uns die „Realpolitiker“ versicherten, nur ein imaginäres. Eine nur auf dem Papier existierende Mußestunde der Fabrikkinder konnte man mit leichtem Herzen hingeben, um dafür die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit der Erwachsenen und die Ausgleichung ihrer Arbeitszeit mit der der Kinder einzutauschen, bei der allein – wenigstens nach der Versicherung Millerands – eine Beobachtung des Gesetzes über die Arbeitsdauer überhaupt möglich wird. In Wirklichkeit zeugt die Annahme gerade dieser Bestimmung des Gesetzes von einem sozialpolitischen Dilettantismus, wie ihn sogar die französische Gesetzgebung bis jetzt noch nie erreicht hat.

Die Fabrikkinder und die Jugendlichen besonders zu schützen, ihre Arbeitszeit kürzer zu gestalten als die der Erwachsenen, das bildet den elementarsten Grundsatz der Arbeiterschutzgesetzgebung in allen kapitalistischen Ländern, das Abc jeder, auch der primitivsten bürgerlichen Sozialpolitik, die erste Forderung des einfachen gesunden Menschenverstandes, das direkte Ergebnis natürlicher Altersunterschiede, endlich die sicherste Maßnahme zur Beschränkung der Kinderzahl in den Fabriken. Indem das Gesetz Millerand die Arbeitszeit der Kinder vorläufig um eine Stunde erhöht, opfert es nicht die materielle eine Stunde ihrer Ruhe, nicht die rein formelle gesetzliche Bestimmung, sondern etwas unendlich Wichtigeres: das Prinzip selbst des besonderen Kinderschutzes.

Nur bei der grob-mechanischen Auffassung der an Tauschgeschäfte gewöhnten „Realpolitik“ konnte die in Bälde bevorstehende Wiederherabsetzung der Arbeitszeit der Kinder auf die frühere absolute Höhe von 10 Stunden eine Kompensation für ihre zeitweise Erhöhung darstellen. Vom sozialpolitischen Standpunkt, von dem aus die Arbeitszeit der Kinder als eine relative, im Verhältnis zur Arbeit der Erwachsenen naturgemäß wechselnde Größe erscheint, ist die Zusammenkettung jetzt und in Zukunft der Arbeitszeit der Kinder und der Jugendlichen mit der der Erwachsenen – eine sozialpolitische Monstrosität. Da das Heruntergehen unter die zehnstündige gesetzliche Arbeitsdauer für Erwachsene in absehbarer Zeit in Frankreich wie anderwärts nicht zu erwarten ist, so bedeutet die Neuerung praktisch nichts anderes als die Verurteilung 12- bis 16jähriger Proletarierkinder für Jahrzehnte hinaus zu einer zehnstündigen Zwangsarbeit im Dienste der kapitalistischen Ausbeutung.

Nächste Seite »