Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 44

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sondern an der Eigentümlichkeit der Millerandschen Maßnahmen selbst. Sie zeichnen sich nämlich alle durch eine innere Zwieschlächtigkeit, einen widerspruchsvollen Charakter aus, der namentlich auch für die drei im Mittelpunkt des Millerandschen Werkes wie des öffentlichen Interesses stehenden Maßnahmen bezeichnend ist: für das Gesetz über den Arbeitstag, die Vorlage über die Gewerkschaften und das Projekt des obligatorischen Streiks.

Frankreich, das sozialpolitisch hinter England, Deutschland, hinter der ganzen kapitalistischen Welt stehende Frankreich bekommt plötzlich in gemischten Betrieben den allgemeinen elfstündigen, in wenigen Jahren den zehnstündigen Arbeitstag! Mit einem Sprunge steht das klassische Land des sozialpolitischen Manchestertums an der Spitze des Fortschritts, die französische Arbeiterklasse, das Aschenbrödel von gestern, steht mit einem Male vor uns als stolze Prinzessin da. Es ist klar, daß ein solches Wunder nur der sozialistische Minister hervorzaubern konnte.

Aber es gibt, wie Genosse Jaurès nach dem Amnestiegesetz philosophisch bemerkt hat, keine ungetrübten Siege in der Geschichte. Das Betrübende an dem epochemachenden Millerandschen Gesetz ist, daß der Zehnstundentag erst in vier Jahren nach seiner Veröffentlichung (am 1. April 1904) in Kraft tritt. Im Laufe von vier Jahren fließt viel Wasser die trübe Seine hinab, und viele französische Ministerien purzeln in den Lethe. Wenn die bisherigen Arbeiterschutzgesetze in Frankreich hauptsächlich zur Ausschmückung des „Journal officiel“ dienten, so lag das an dem vereinigten Widerstand des Unternehmertums, der Administrationsorgane und der Gerichte. Im bedauerlichen Gegensatz zu dem „Hinundherschweben“, dem „wechselnd Weben“, dem Eintagsfliegendasein der Ministerien, stellen alle diese Widerstandskräfte in Frankreich eine feste, unerschütterliche Mauer dar. Ein dem Kampfe der unbekannten künftigen Regierungen mit diesem Wall der sozialpolitischen Reaktion überlassenes Gesetz ist jedenfalls ein Wechsel auf eine Bank der Zukunft.

Jedoch der Pessimismus in bezug auf seine künftige Realisierung ist nicht der einzige Schatten, der auf das lichtvolle Gesetz Millerands fällt. Die Verkürzung der Arbeitszeit der Erwachsenen gegenwärtig auf elf und künftig auf zehn Stunden ist mit einem Opfer, mit der vorläufigen Verlängerung der Arbeitszeit der Kinder um eine Stunde, erkauft worden.

Es ist wahr, der 1892 festgesetzte zehnstündige Arbeitstag der Kinder wurde in der Praxis ebensowenig eingehalten wie die anderen Arbeiterschutzgesetze. Die schlauen französischen Unternehmer hatten das Gesetz – wie ihre englischen Kollegen in den vierziger Jahren – minder Einführung

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