Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 43

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später ein „großes republikanisches Werk“ dort erblicken konnte, wo selbst bürgerliche Demokraten nur Verrat und Schmach sehen. Die Amnestie und die Vorlage über die Kongregationen durften sich erst nach dem Gesetz über den Arbeitstag und nach der Vorlage über die Erweiterung des Koalitionsrechtes ans Tageslicht wagen. Die Sozialreformen Millerands sicherten der politischen Kapitulation Waldeck-Rousseaus die Straflosigkeit. Die Arbeiterfreundlichkeit des Kabinetts war der Preis, womit die passive Mitschuld eines Teiles der Arbeiterklasse an dieser Kapitulation erkauft wurde.

Es heißt also die innere Logik der ganzen politischen Situation verkennen, wenn man behauptet, der sozialistische Minister sei der eigentliche und alleinige Urheber der sonst undenkbaren sozialpolitischen Tätigkeit des radikalen Ministeriums. Ganz im Gegenteil, mag der Geist, der Charakter, der Umfang des sozialreformerischen Werkes auf Konto des einzelnen Ministers gesetzt werden – dieses Werk selbst war das Fundament, auf dem das Kabinett Waldeck-Rousseau angesichts seiner völligen Preisgabe der politischen Aufgaben seine parlamentarische Existenz begründet hat.

Auf den ersten Blick scheint die dargestellte Taktik des radikalen Ministeriums auf den Kopf gestellt. Um politische Interessen der Reaktion schonen zu können, entschloß es sich, ihre wirtschaftlichen Interessen zu opfern? Um die politischen Gegensätze innerhalb der Bourgeoisie vertuschen zu können, will sie den sozialen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat hervorheben? Das Verkehrte dieser Taktik ist nur scheinbar. Die nähere Analyse der Millerandschen Sozialreform zeigt, daß sie in letzter Linie nicht eine Verleugnung, sondern eine direkte Fortsetzung der politischen Aktion des Kabinetts ist.

Es ist für alle wichtigsten sozialreformerischen Maßnahmen Millerands bezeichnend, daß sie gleichzeitig ebenso überschwengliche Begeisterung wie schroffe Ablehnung hervorgerufen haben, daß sie in Frankreich wie außerhalb Gegenstand der widersprechendsten Urteile geworden sind. Während sie auf der einen Seite als rein sozialistische Maßnahmen, als Vorboten der kommenden Herrschaft der Arbeiterklasse, als Marksteine einer neuen Ära der Sozialpolitik gefeiert werden, reißt man sie auf der anderen als Verrat an der Arbeiterklasse, zum mindesten als gänzlich verfehlte Versuche einer Sozialreform herunter.

Die Ursache davon ist eine einfache. Sie liegt nicht etwa, wie es ein oberflächlicher Beobachter schließen könnte, an dem grundsätzlich verschiedenen Verhältnis der Urteilenden zu der sozialistischen Ministerfrage,

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