Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 42

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Waldeck-Rousseau mehr als einen Grund. Der französische Radikalismus, der in sozialpolitischem Chinesentum die opportunistische Politik noch übertrumpft, hatte sich durch sein bisheriges Verhalten in den Augen der Arbeiterschaft vollends kompromittiert. Die Rücksichten auf die proletarische Unterstützung waren um so dringender, als die eigenen Kerntruppen des Radikalismus, das Pariser Kleinbürgertum, sich in der ganzen Dreyfus-Krise und wieder bei den Wahlen zum Gemeinderat als höchst unsichere Kantonisten erwiesen hatten.

Aber das ausschlaggebende Moment lag in der eigentümlichen Situation des jetzigen Ministeriums. Das Kabinett Waldeck-Rousseau war wie seine radikalen Vorgänger auf die Unterstützung der Sozialisten angewiesen, und es trat wie seine Vorgänger mit dem Verrat an den politischen Bestrebungen und Hoffnungen der Sozialisten als seinem eigentlichen politischen Programm auf die Bühne.

Niemals früher waren aber die Sozialisten in dem Maße an der politischen Tätigkeit der Regierung unmittelbar interessiert, niemals war die Aufmerksamkeit und die Wachsamkeit der Arbeiterklasse ihr gegenüber so geschärft gewesen wie nach der Dreyfus-Krise, als deren unmittelbares Ergebnis die Regierung Waldeck-Rousseau erschien und während der ein großer Teil der Sozialisten eine hervorragende Rolle in der Tagespolitik des Landes gespielt hatte. Niemals ist deshalb die Impotenz des Radikalismus in so schroffen Gegensatz zu den Erwartungen der sozialistischen Arbeiterschaft getreten wie während des Ministeriums Waldeck-Rousseau. Das achtzehnmonatige Nichtstun und das darauf folgende Amnestiegesetz hätten nach der allgemeinen Spannung und Aufregung der zweijährigen Dreyfus-Krise sogar die erprobte Langmut der Sozialisten erschöpfen können. Die Festhaltung der sozialistischen Unterstützung war also diesmal für die radikale Regierung eine viel schwierigere Aufgabe als in den früheren Fällen. Irgend etwas mußte der Arbeiterschaft im voraus als Entgelt für ihre Enttäuschungen unbedingt geboten werden. Und als dieses Entgelt ergaben sich von selbst die Sozialreformen.

Arbeiterfreundliche Gesetze waren für das Ministerium das einzige Mittel, das die Sozialisten veranlassen konnte, sich über sein politisches Fiasko hinwegzusetzen. Wären nicht die Reformen, womit die Arbeiterschaft geblendet und die Sozialisten in Atem gehalten wurden, so hätte sogar die Hypnose von Jaurès es nicht fertiggebracht, seine Truppen an die „republikanische Verteidigung“ des Kabinetts glauben zu machen. Erst die sozialreformerischen Gesetze und Dekrete haben eine Verwirrung des politischen Urteils in den sozialistischen Kreisen angerichtet, so daß man

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