Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 459

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/459

zeigt schlagend, genauso wie das Beispiel des zu ganz entgegengesetzten Zwecken geschaffenen Jaurèsschen Blocks, was bei einer solchen Politik allenfalls herauskommt: Es ist stets die Politik der rückständigsten Partei, die bei einem dauernden Bündnis den Ausschlag gibt. Wie bei dem deutschen bürgerlich-agrarischen Bündnis nicht das Bürgertum, sondern die agrarische Reaktion das Heft in den Händen hat, so tanzt heute tatsächlich in Frankreich nicht das radikal-republikanische Kleinbürgertum nach der Pfeife Jaurès’, sosehr es auch an der parlamentarischen Oberfläche danach aussehen mag, sondern der ministerielle Sozialismus bildet bloß den Steigbügel für die Herrschaft des republikanischen Kleinbürgertums.

Ist somit die Politik der dauernden Allianzen mit rückständigeren Richtungen für jede wirkliche Kampfpartei, für jede – auch bürgerliche – Oppositionspartei verhängnisvoll, so ist sie es doppelt für die Sozialdemokratie. Betrachten wir z. B. für einen Augenblick näher die gegenwärtige Situation in Rußland.

Als beachtenswerter politischer Faktor bei einem Bündnis käme für die Sozialdemokratie etwa nur der russische Liberalismus in Betracht. Seine jüngste Regung – der Semstwokongreß[1] und dessen konstitutionelle „Charte“ – ist zweifellos von großer politischer Bedeutung, freilich nicht als Äußerung einer lebendigen Kraft im russischen Liberalismus, sondern als typisches Symptom der Verwirrung und Zersetzung im Lager des Absolutismus. Verbindet sich nun etwa die russische Sozialdemokratie mit dieser schwächlichen konstitutionellen Partei des russischen Landadels und der Intelligenz, um ihr „den Rücken zu steifen“, so schränkt sie nicht nur ihre politischen Forderungen notwendigerweise auf das Minimum ein, indem sie z. B. auf die Forderung der Republik verzichtet, an die der russische Liberalismus in seinen kühnsten Träumen nicht zu denken wagt, sondern sie begibt sich auch der Möglichkeit, die ganze Politik des Liberalismus als eine Äußerung der zur Herrschaft strebenden besitzenden Klasse auf Schritt und Tritt rücksichtslos zu entlarven. Die Sozialdemokratie ist alsdann gezwungen, entgegen ihrer eigenen gesellschaftlichen Auffassung wie entgegen den Lehren der Geschichte Westeuropas den russischen Liberalismus, um ihn nicht zu schwächen und bloßzustellen, lediglich als reine Ideologie, d. h. als das, wofür sich diese Richtung selbst hält, zu nehmen und in der Arbeiterklasse diese Illusion bewußt zu nähren. Damit wird sie aber ihrer obersten Aufgabe, der Klassenaufklärung

Nächste Seite »



[1] Am 17. November 1904 fand in Petersburg eine Konferenz von Mitgliedern der Semstwos statt. Die Vertreter übten keine Kritik am Wesen des Absolutismus selbst sondern nur an seinen Erscheinungen. Sie forderten lediglich Reformen im Rahmen der bestehenden Ordnung.