In direktem Gegensatz zu der irrigen Annahme der jaurèsistischen Taktik sind die Grundlagen des Parlamentarismus um so besser und sicherer geschützt, je mehr unsere Taktik nicht auf das Parlament allein, sondern auch auf die direkte Aktion der proletarischen Masse zugeschnitten ist. Die Gefahr für das allgemeine Wahlrecht wird in dem Maße geringer, wie wir den herrschenden Klassen deutlich zum Bewußtsein bringen, daß die eigentliche Macht der Sozialdemokratie durchaus nicht auf der Wirkung ihrer Abgeordneten im Reichstag beruht, sondern daß sie draußen, im Volke selbst, „auf der Straße“ liegt und daß die Sozialdemokratie nötigenfalls imstande und willens ist, das Volk zum Schutze seiner politischen Rechte auch direkt mobilzumachen. Wir meinen damit nicht, daß es z. B. genügt, den Generalstreik sozusagen wie ein automatisches Mittel in der Tasche parat zu halten, um sich für alle Eventualitäten der Politik gerüstet zu glauben. Der politische Generalstreik ist gewiß eine der wichtigeren Äußerungen der Massenaktion des Proletariats, und es ist durchaus notwendig, daß die deutsche Arbeiterklasse sich gewöhnt, auch dieses bis jetzt nur in romanischen Ländern erprobte Mittel ohne jeden Dünkel und ohne vorgefaßten Doktrinarismus als eine der Kampfformen zu betrachten, die eventuell auch in Deutschland versucht werden könnten. Noch wichtiger ist aber die allgemeine Gestaltung unserer Agitation, unserer Presse in dem Sinne, daß die Arbeitermasse immer mehr auf die eigene Macht, auf die eigene Aktion hingewiesen wird und nicht die parlamentarischen Kämpfe als die Zentralachse des politischen Lebens betrachtet.
Damit im engsten Zusammenhang steht unsere Taktik im Reichstag selbst. Was unseren Abgeordneten jedesmal ihre glänzende Kampagne und ihre hervorragende Rolle so sehr erleichtert, ist ja – darüber muß man sich ganz klarwerden – der Mangel im deutschen Reichstag an jeglicher bürgerlichen Demokratie und Opposition, die dieses Namens wert wäre. Gegenüber der reaktionären Majorität hat die Sozialdemokratie leichtes Spiel als die einzige konsequente und zuverlässige Vertreterin der Interessen des Volkswohlstandes und des Fortschrittes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens.
Allein aus derselben eigenartigen Situation ergibt sich für die sozialdemokratische Fraktion die schwierige Aufgabe, nicht bloß als Vertreterin einer oppositionellen Partei, sondern auch als Vertreterin einer revolutionären Klasse aufzutreten. Mit anderen Worten: Es ergibt sich die Aufgabe, nicht bloß die Politik der herrschenden Klassen vom Standpunkte der Gegenwartsinteressen des Volkes, d. h. vom Standpunkte der bestehen-