Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 455

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den Gesellschaft selbst, zu kritisieren, sondern ihr auch auf Schritt und Tritt das sozialistische Gesellschaftsideal, das über die fortschrittlichste bürgerliche Politik hinausgeht, entgegenzuhalten. Und wenn das Volk bei jeder Debatte im Reichstag sich zweifellos überzeugen kann, um wieviel gescheiter, fortschrittlicher, wirtschaftlich vorteilhafter sich die Zustände im Gegenwartsstaat gestalten würden, wenn jedesmal die Wünsche und Anträge der Sozialdemokratie erfüllt wären, so soll es sich noch viel häufiger als bis jetzt aus den Reichstagsdebatten überzeugen, wie nötig es sei, diese gesamte Ordnung umzustürzen, um den Sozialismus zu verwirklichen.

In der neuesten Nummer der „Sozialistischen Monatshefte“ schreibt einer der Führer der italienischen Opportunisten, Bissolati, in seinem Artikel über die italienischen Wahlen[1] u. a. diesen Satz : „Meiner Meinung nach ist es ein Beweis für die Rückständigkeit des politischen Lebens, wenn der Kampf der einzelnen Parteien sich noch um ihre Grundtendenzen dreht statt um einzelne Fragen, die der Wirklichkeit des täglichen Lebens entspringen und jene Tendenzen zum Ausdruck kommen lassen.“ Es ist klar, daß dieses typische Räsonnement des Opportunismus die Wahrheit auf den Kopf stellt. Mit der Entwicklung und der Erstarkung der Sozialdemokratie wird es immer notwendiger, daß sie namentlich im Parlament nicht in den einzelnen Fragen des täglichen Lebens untertaucht und nur politische Opposition treibt, sondern daß sie immer kräftiger ihre „Grundtendenz“ hervorkehrt: die Bestrebung zur politischen Machtergreifung durch das Proletariat zum Zwecke der sozialistischen Umwälzung.

Je mehr im Reichstag in schroffer Dissonanz mit dem trivial-nüchternen Ton und der platten Geschäftsmäßigkeit aller bürgerlichen Parteien die frische, großzügige Agitation der Sozialdemokratie nicht bloß für ihr Minimalprogramm, sondern auch für ihre sozialistischen Endziele ertönt, um so mehr wird der Reichstag in der Achtung der großen Volksmasse steigen. Um so sicherer auch die Gewähr, daß sich die Volksmasse nicht ruhig diese Tribüne und das allgemeine Wahlrecht von der Reaktion wird entreißen lassen.

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),

I: Nr. 282 vom 5. Dezember 1904,

II: Nr. 284 vom 7. Dezember 1904.

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[1] Leonida Bissolati: Das Ergebnis der italienischen Wahlen. In: Sozialistische Monatshefte (Berlin), 1904. II. Bd., 12. Heft, S. 955.