Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 443

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Massenbewegung und die ihr drohenden Klippen nicht aus den menschlichen Köpfen, sondern aus den gesellschaftlichen Bedingungen entspringen, so können die opportunistischen Verirrungen nicht von vornherein verhütet werden, sie müssen erst, nachdem sie in der Praxis greifbare Gestalt angenommen haben, durch die Bewegung selbst – allerdings mit Hilfe der vom Marxismus gelieferten Waffen – überwunden werden. Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, erscheint der Opportunismus auch als ein Produkt der Arbeiterbewegung selbst, als ein unvermeidliches Moment ihrer geschichtlichen Entwicklung. Gerade in Rußland, wo die Sozialdemokratie noch jung und die politischen Bedingungen der Arbeiterbewegung so abnorm sind, dürfte der Opportunismus sich einstweilen in hohem Maße aus dieser Quelle, aus dem unvermeidlichen Tasten und Experimentieren der Taktik, ergeben, aus der Notwendigkeit, den Gegenwartskampf in ganz eigenartigen, beispiellosen Verhältnissen mit den sozialistischen Grundsätzen in Einklang zu bringen.

Ist dem aber so, dann erscheint um so wunderlicher die Idee, gleich in den Anfängen einer Arbeiterbewegung das Aufkommen der opportunistischen Strömungen durch diese oder andere Fassung des Organisationsstatuts verbieten zu können. Der Versuch, den Opportunismus durch solche papierne Mittel abzuwehren, kann tatsächlich nicht diesem, sondern nur der Sozialdemokratie selbst ins Fleisch schneiden, und indem er in ihr das Pulsieren eines gesunden Lebens unterbindet, schwächt er ihre Widerstandsfähigkeit im Kampfe nicht nur gegen opportunistische Strömungen, sondern auch – was doch gleichfalls von einiger Bedeutung sein dürfte – gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Das Mittel wendet sich gegen den Zweck.

In diesem ängstlichen Bestreben eines Teiles der russischen Sozialdemokraten, die so hoffnungsvoll und lebensfreudig aufstrebende russische Arbeiterbewegung durch die Vormundschaft eines allwissenden und allgegenwärtigen Zentralkomitees vor Fehltritten zu bewahren, scheint uns übrigens derselbe Subjektivismus mitzureden, der schon öfters dem sozialistischen Gedanken in Rußland einen Possen gespielt hat. Drollig sind fürwahr die Kapriolen, die das verehrte menschliche Subjekt der Geschichte in dem eigenen geschichtlichen Prozeß mitunter auszuführen beliebt. Das von dem russischen Absolutismus ekrasierte, zermalmte Ich nimmt dadurch Revanche, daß es sich selbst in seiner revolutionären Gedankenwelt auf den Thron setzt und sich für allmächtig erklärt – als ein Verschwörerkomitee im Namen eines nichtexistierenden „Volkswillens“. Das „Objekt“ zeigt sich aber stärker, die Knute triumphiert bald, indem sie sich als der

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