Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 442

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revolutionäre Schlepptau zu nehmen. In diesem Falle ist auch eine strengere Durchführung des zentralistischen Gedankens im Organisationsstatut und die straffere Paragraphierung der Parteidisziplin als ein Damm gegen die opportunistische Strömung sehr zweckmäßig. Das Organisationsstatut kann unter diesen Umständen zweifellos als eine Handhabe im Kampfe mit dem Opportunismus dienen, wie es der französischen revolutionären Sozialdemokratie tatsächlich gegen den Ansturm des jaurèsistischen Mischmasches gedient hat und wie auch eine Revision des deutschen Parteistatuts in diesem Sinne jetzt eine Notwendigkeit geworden ist. Aber auch in diesem Falle soll das Parteistatut nicht etwa an sich eine Waffe zur Abwehr des Opportunismus sein, sondern bloß ein äußeres Machtmittel zur Ausübung des maßgebenden Einflusses der tatsächlich vorhandenen revolutionären proletarischen Majorität der Partei. Wo eine solche noch fehlt, kann sie durch die rigorosesten Paragraphen auf dem Papier nicht ersetzt werden.

Doch ist der Zufluß bürgerlicher Elemente, wie gesagt, durchaus nicht die einzige Quelle der opportunistischen Strömung in der Sozialdemokratie. Die andere Quelle liegt vielmehr im Wesen des sozialdemokratischen Kampfes selbst, in seinen inneren Widersprüchen. Der weltgeschichtliche Vormarsch des Proletariats bis zu seinem Siege ist ein Prozeß, dessen Besonderheit darin liegt, daß hier zum erstenmal in der Geschichte die Volksmassen selbst und gegen alle herrschenden Klassen ihren Willen durchsetzen, ihn aber ins Jenseits der heutigen Gesellschaft, über sie hinaus setzen müssen. Diesen Willen können sich die Massen aber andererseits nur im alltäglichen Kampfe mit der bestehenden Ordnung, also nur in ihrem Rahmen ausbilden. Die Vereinigung der großen Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der revolutionären Umwälzung, das ist der dialektische Widerspruch der sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgang zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Preisgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung, vorwärtsarbeiten muß.

Es ist deshalb eine ganz unhistorische Illusion, zu denken, die sozialdemokratische Taktik im revolutionären Sinne könne im voraus ein für allemal sichergestellt, die Arbeiterbewegung könne vor opportunistischen Seitensprüngen ein für allemal bewahrt werden. Zwar liefert die Marxsche Lehre vernichtende Waffen gegen alle Grundtypen des opportunistischen Gedankens. Da aber die sozialdemokratische Bewegung eben eine

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