Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 419

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Aber die Ursache, die ihn zu diesen gewagten Sprüngen verleitete, war nicht die innere Unsicherheit, der innere Zweifel an der Kraft und der Realisierbarkeit der revolutionären Sache, die er vertrat, sondern ganz umgekehrt ein Übermaß an selbstsicherem Glauben an die unbezwingbare Macht dieser Sache. Lassalle trat im Kampfe manchmal auf den Boden des Gegners über, nicht um dadurch etwas von seinen revolutionären Zielen preiszugeben, sondern in dem Wahn einer mächtigen Persönlichkeit, dem Gegner, umgekehrt, auf dessen eigenem Boden so viel für seine revolutionären Ziele abtrotzen zu können, daß dabei der Boden selbst dem Gegner unter den Füßen hätte zusammenbrechen müssen. Wenn Lassalle z. B. seine Idee der Produktivassoziationen mit Staatskredit auf eine idealistische, unhistorische Fiktion vom „Staate“ aufpropfte, so lag die große Gefahr dieser Fiktion darin, daß er in Wirklichkeit damit doch nur den erbärmlichen preußischen Staat idealisierte. Aber was Lassalle auf Grund seiner Fiktion diesem Staate an Aufgaben und Pflichten der Arbeiterklasse gegenüber alles abfordern und aufoktroyieren wollte, das hätte nicht nur die elende Baracke von einem preußischen Staat, sondern den bürgerlichen Staat überhaupt ins Wanken gebracht.

Das Falsche, man möchte sagen das Opportunistische in der Lassalleschen Taktik lag darin, daß er sich mit seinen Forderungen an eine falsche Adresse wendete, aber seine Forderungen verkleinerten sich deshalb nicht und bröckelten nicht unter seinen Händen ab, sondern sie wuchsen immer mehr. Und wenn er den ganzen Kampf mit Vorliebe auf einige wenige Kampfparolen reduzierte – auf die Parole des allgemeinen Wahlrechts und der Produktivassoziationen –, so war es nicht das Übermaß an Langmut, das ihn etwa geheißen hätte, das Meer der sozialistischen Forderungen durch bürgerliche Reformen löffelweise auszuschöpfen, sondern es war umgekehrt die Ungeduld, die ihn dazu trieb, zur Abkürzung des langen historischen Prozesses alle Kräfte des Ansturmes jeweilig auf einen oder einige wenige Angriffspunkte zu konzentrieren.

So sind denn die Fehler selbst der Lassalleschen Taktik die des Stürmers und nicht des Zauderers, des waghalsigen Revolutionärs und nicht des kleinmütigen Diplomaten gewesen.

Es gab zu jeder Zeit Menschen – und es gibt solche auch heute –, die an die Möglichkeit und das Zeitgemäße einer Revolution erst dann glauben, wenn sie bereits geschehen, Menschen, die der Weltgeschichte ihre Gedanken sozusagen nicht vom Antlitz, sondern vom Rücken ablesen. Lassalle gehörte mit zu jener großen Generation, an deren Spitze Karl Marx leuchtete, in der der Glaube an die Revolution in seiner ganzen

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