Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 418

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/418

verwandelte sich daher in den preußischen Staat. So wurde er zu Konzessionen an das preußische Königtum, die preußische Reaktion (Feudalpartei) und selbst die Klerikalen gezwungen.“[1]

Doch die große Tat, die Lassalle trotz und durch diese Fehler vollbracht, verkleinert sich nicht, sondern wächst immer mehr mit der historischen Perspektive, aus der wir sie betrachten. Daß Lassalle es verstanden hat, die ganze innere Misere des bürgerlichen Liberalismus zu durchschauen und vor der Arbeiterklasse rücksichtslos, beinahe brutal zu entlarven – gerade zu einer Zeit, wo dieser Liberalismus immerhin noch so etwas wie einen Kampf mit der Krone und mit der junkerlichen Reaktion wagte –, dieses Verdienst wird in dem Maße immer größer in den Augen des Historikers und des Politikers, als das liberale Bürgertum seitdem das Wunder fertiggebracht hat, auch von jener Tiefe, auf der es damals stand, mit jedem Jahre noch tiefer hinabzugleiten. Und wenn heute noch, erst vor kurzem, wenn auch ganz vereinzelt und vorübergehend, Illusionen in bezug auf einen neuen Aufschwung, auf einen Altweibersommer des bürgerlichen Liberalismus, auf ein Zusammengehen und -kämpfen. des Proletariats mit ihm überhaupt denkbar waren, um so bahnbrechender wird die kühne Tat Lassalles, der nicht einen Augenblick zauderte, dem deutschen Proletariat durch die Trümmer des über dem heutigen doch turmhoch ragenden Liberalismus der Konfliktszeit den Weg zur selbständigen Klassenpolitik zu weisen.

Lassalle hat Fehler in seiner Kampftaktik begangen, gewiß. Doch ist es nur ein wohlfeiles Vergnügen für Kleinkrämer der Geschichtsforschung, Fehler in einem großen Lebenswerk zu konstatieren. Zur Beurteilung einer Persönlichkeit wie ihres Wirkens ist viel wichtiger die Erkenntnis der eigentlichen Ursache, der besonderen Quelle, aus der ihre Fehler wie ihre Vorzüge sich ergaben. Lassalle sündigte vielfach durch seine Neigung zum „Diplomatisieren“, zum „Listen“ mit der Idee, so in seinen Verhandlungen mit Bismarck über die Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts, so in seinen Plänen der Produktivassoziationen mit Staatskredit. Er begab sich in seinen politischen Kämpfen mit der bürgerlichen Gesellschaft wie in seinen gerichtlichen Kämpfen mit der preußischen Justiz mit Vorliebe auf den Boden des Gegners, ihm so äußerlich eine Konzession seines Standpunktes gewährend, ein kecker, kühner Akrobat, wie Johann Philipp Becker schrieb, wagte er oft einen Sprung bis auf den äußersten Rand des Abgrunds, der eine revolutionäre Taktik vom Paktieren mit der Reaktion scheidet.

Nächste Seite »



[1] Karl Marx an Johann Baptist von Schweitzer, 13. Oktober 1868. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 32, S. 569.