Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 414

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rektur, daß sie von Hause aus reine Utopien sind. Und die lustige Sinfonie schriller Mißtöne, die zum Schlusse der frommen Versammlung zu Frankfurt die einzelnen Chöre mit ihren christlichen, evangelischen und katholischen Strophen und Antistrophen gegeneinander zum besten gaben, hat auch diesmal gezeigt, daß alle Versuche, die Arbeiterschaft im Gegensatz zur Sozialdemokratie auf dem Boden der „berechtigten“, das heißt vom Standpunkt der Kapitalsherrschaft berechtigten Interessen zu einer kompakten, dauernden Berufsvertretung zu organisieren, ebensoviel Versuche sind, die Rechnung ohne den Wirt zu machen.

Die geschichtliche Entwicklung der Arbeiterklasse verläuft hier nämlich nach einer gerade entgegengesetzten Richtung wie die der bürgerlichen Klassen. In der Bourgeoisie finden wir im Anfang ihrer historischen Laufbahn die Gruppierung nach großen politischen Gesichtspunkten und Idealen. Liberalismus, Demokratie, Republikanismus, die nationale Idee, das sind die Fahnen, um die sich das Bürgertum in seiner Jugend in politische Kader ordnet. Sobald die Bourgeoisie zur Herrschaft gelangt ist und den alten Feind Feudalismus besiegt oder sich mit ihm abgefunden hat, beginnt die Durchlöcherung der parteipolitischen Zeltwände durch einzelne Gruppeninteressen, die sich auf dem üppigen Boden der überreifen bürgerlichen Klassenherrschaft herausbilden. Andererseits tritt aus dem Gehalt der Parteiprogramme gegenüber der kämpfenden Arbeiterklasse das Spezifische, Trennende immer mehr zurück. Parteien wie die Nationalliberalen, der Freisinn zerfallen und zerfließen mit den Konservativen im reaktionären Brei, dafür recken sich der Zentralverband der Industriellen, der Bund der Landwirte aus den Parteien mächtig empor.

Umgekehrt bei dem Proletariat. Erst die Erkenntnis der Klassenlage und der Klassenaufgaben, erst das politische, historische Moment, der Sozialismus, vermag auf einem bestimmten Reifegrad die zersplitterte Arbeiterklasse zu einer höheren Einheit zusammenzufassen. Vor dieser Einsicht wird die Arbeiterschaft durch den Konkurrenzkampf der kapitalistischen Wirtschaft in Berufs- und Interessengruppen zerklüftet, die vom Standpunkt des unmittelbaren Tagesinteresses, vom Standpunkt der Marktlage zur Solidarität mit dem Kapital und zum Gegensatz zueinander getrieben werden.

Diese heterogenen Elemente gerade dadurch zusammenfassen zu wollen, daß man sie auf ihre Tagesinteressen konzentriert, welche sie auseinanderbringen, und ihnen das Klassenbewußtsein abspricht, das sie aneinanderkittet, flies Streben heißt ebensoviel, wie aus Flugsand feste Formen bilden zu wollen: sie zerrinnen unter der Hand. Gebilde, wie das

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