Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 413

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schiedslos Bürgerliche, das Stehen auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft stets der wahre Kern und der einzige politische Inhalt der sogenannten „Neutralität“ ist.

Vom Standpunkt einer aufs äußerste bedrängten Bourgeoisie kann man auch dieser Spekulation eine gewisse Pfiffigkeit nicht versagen. In der Tat ist es gerade dem Proletariat infolge seiner besonderen historischen Existenzbedingungen ganz unmöglich, reine Interessenpolitik nach dem leuchtenden Beispiel des Bundes der Landwirte zu treiben. Sofern es dies versucht, besorgt es im Grunde genommen, so paradox das klingen mag, nicht seine eigenen, sondern stets die Geschäfte seiner Gegner, der herrschenden Klassen.

Die Sache ist eigentlich so einfach wie das Einmaleins. Im Unterschied vom bürgerlichen Privatinteresse beruht das Interesse des Proletariats nicht auf dem Gegensatz zum Einzelkapitalisten oder einer Gruppe von Kapitalisten, sondern auf dem Gegensatz zum Kapitalismus als einer Gesellschaftsform, zum Staate als der politischen Organisation der Bourgeoisie. Praktisch äußert sich dies schon in der trivialen Erkenntnis, die jeder Gewerkschaftler sich längst an den Sohlen abgelaufen hat, daß es eine Sisyphusarbeit ist, die materielle Lage der Arbeiter durch Lohnkämpfe und Arbeiterschutzgesetze bessern zu wollen, ohne gleichzeitig gegen die Zollpolitik, den Militarismus, die indirekten Steuern, gegen das ganze Wesen der herrschenden Klassen zu kämpfen.

Wenn deshalb unsere Gewerkschaften auch spezielle Organisationen zur Wahrnehmung der ‘ökonomischen Gegenwartsinteressen darstellen, so ist ihre Politik auch in diesen Grenzen – und darin liegt das Geheimnis ihrer Macht wie ihrer glänzenden organisatorischen Erfolge – von der Einsicht in die historischen Bedingungen des Proletariats, vom Geiste des Klassenkampfes getragen, so wie ihre ganze Existenz auf die gleichzeitige Existenz der Sozialdemokratie zugeschnitten ist, mit der zusammen sie erst ein harmonisches Ganzes bilden.

Tritt hingegen die wirtschaftliche Interessenvertretung der Arbeiter in Gegensatz zur Sozialdemokratie und an ihre Stelle, dann kann sie im besten Falle nur den Zweck erreichen, die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse aus primitiven in geordnete zu verwandeln, also zu konsolidieren, und als solche Werkzeuge der Konsolidierung der Lohnsklaverei sind eben die konfessionellen Arbeitervereine und Gewerkschaften zusammengetreten.

Zum Glücke finden die reaktionären Experimente mit der Arbeiterbewegung, so pfiffig sie auch ausgeklügelt werden mögen, darin ihre Kor-

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