Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 412

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/412

Schule, in der auch Sombart nach zwanzig Vorbildern sich die Sporen verdienen wollte – sucht gerade in der Heraushebung und Förderung der wirtschaftlichen Tagesinteressen der Arbeiter das Mittel zur Bekämpfung ihrer politischen Klassenbestrebungen.

Mit dürren Worten spricht es ein Freisinnsblatt aus: „Die Freiheit, zur Erreichung gemeinsamer Ziele sich zu verbinden, ist ein Interesse jeder Klasse der Gesellschaft. Jede macht von dieser Freiheit Gebrauch, soweit sie sie besitzt. Der Bund der Landwirte, der Zentralverband der Industriellen, viele Hunderte von Ringen, Kartellen und Syndikaten liefern dafür beredtes Zeugnis. Wir wünschen und halten es für ein Erfordernis des öffentlichen Wohles, daß der Arbeiterklasse diese Freiheit in demselben Maße zuteil werde wie jeder anderen.“ Die Organisation der Arbeiter auf dem gleichen Boden mit dem Bunde der Landwirte oder dem Zentralverband der Scharfmacher, nicht mit den politischen Parteien, sondern mit den ökonomischen Interessenverbänden der Bourgeoisie zu stellen, das ist das einzige Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie, das den herrschenden Klassen nach dem gänzlichen Fiasko des Puttkamerschen Systems übriggeblieben ist, und das ist auch der Gedankengang, aus dem heraus die Frankfurter Veranstaltung unter dem frischen Eindruck des Dreimillionensieges der Sozialdemokratie[1] geboren wurde.

Und was hat diese Probe aufs Exempel wieder bewiesen?

Politische Neutralität – das ist die schönklingende unverfängliche Losung, unter der die Schwenkung vom proletarischen Klassenstandpunkt zum Standpunkt der „Berufsinteressen“ in Frankfurt wie bei jedem dergleichen Versuche vollzogen werden sollte. In der Praxis erwies sich diese Neutralität sofort als eine zweifellose Tatsache – gegenüber den verschiedenen bürgerlichen Parteien. Wie die englischen Trade-Unionisten nicht bloß in ihrer Mehrheit den Liberalen, sondern in einem gewissen Teile mit souveränem Gleichmut auch den Tories politischen Heerbann leisten, ebenso hat sich die Versammlung in Frankfurt zu gleicher Zeit die huldvolle Anerkennung des Freisinns wie der Nationalliberalen, des Zentrums wie der Agrarier – und, wir müssen gestehen, aller mit gleicher Berechtigung – zugezogen.

Die einzige politische Partei, der gegenüber sich diese Neutralität trotz der vereinzelten Verschleierungsversuche deutlich in direkte Gegnerschaft verkehrt hat, war die Sozialdemokratie. Der Antisozialismus war hier offen, wie er stets versteckt ist, lediglich die andere Seite der Neutralität gegenüber den einzelnen bürgerlichen Parteischattierungen, wie das unter-

Nächste Seite »



[1] Am 16. Juni 1903 hatten die Wahlen zum deutschen Reichstag stattgefunden. Die Sozialdemokratie errang mit über drei Millionen Stimmen einen Wahlsieg und erhöhte die Zahl ihrer Abgeordneten gegenüber 1898 um 25 auf insgesamt 81.