Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 411

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treuherzig offene Hand für den sozialpolitischen guten Willen der Posadowsky-Regierung und die nüchterne Realpolitik, die streng mit dem Möglichen rechnet, Huldigungstelegramme nach den Reden von Essen und Breslau[1] schickt, das grinsende Gespenst aber der Diktatur des Proletariats mit Abscheu und Weihwasser verscheucht. Und endlich auch das holde Ideal der Verachtung der Theorie feierte in Frankfurt seine Fleischwerdung: Nicht der geringste Schatten der theoretischen Erkenntnis trübte die heitere Borniertheit und Stupidität der Zöglinge Stoeckers[2] und des Zentrums, nicht der leiseste Hauch des Idealismus störte das Geschäftsmäßige dieser biederen proletarischen „Interessenvertretung“ mit Gott für König und Vaterland.

Und doch war es kein Mißverständnis, wenn über diese schönen Dinge, die das probateste Mittel zur Aushöhlung der bestehenden Ordnung und zu ihrer Plombierung mit lauterem sozialistischem Golde darstellen sollten, ein Gratulationstelegramm des Bundes der Landwirte quittierte![3] Es war vielmehr der frische Klasseninstinkt, es war die Stimme der Blutsverwandtschaft einer „Interessengruppe“ mit der anderen, die aus der so gut gemeinten und so undankbar aufgenommenen Depesche sprach.

Proletarische „Interessenvertretung“ statt proletarischen Klassenkampfes, darin gipfelt der ganze Gegensatz zwischen der bürgerlichen Sozialreform und der Sozialdemokratie wie in letzter Konsequenz auch zwischen der Tendenz des Revisionismus und der marxistischen hergebrachten Auffassung innerhalb der Sozialdemokratie.

Die Bekämpfung der Sozialdemokratie hat seit jeher zwei verschiedene Formen angenommen. Die eine – primitive Puttkamersche Schule[4] – sieht in jeder Tarifgemeinschaft, in jeder harmlosen Genossenschaft bereits „ein Stück Sozialismus“ und wittert deshalb hinter der einfachsten wirtschaftlichen Organisation der Arbeiter den Umsturz. Die andere – moderne

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[1] Wilhelm II. hatte am 26. November 1902 in Essen und am 5. Dezember 1902 in Breslau die deutsche Sozialdemokratie angegriffen und die Arbeiterschaft aufgefordert, sich vom sozialdemokratischen Einfluß zu befreien und keine sozialdemokratischen Vertreter in den Reichstag zu wählen. In einem Telegramm an Wilhelm II. hatten die Teilnehmer am sogenannten Ersten Deutschen Arbeiterkongreß ihre „unwandelbare monarchische und vaterländische Gesinnung“ beteuert.

[2] Der Hofprediger Adolf Stoecker hatte im Januar 1878 versucht, durch die Gründung der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei (ab 1881 Christlich-Soziale Partei) die Arbeiter von der Sozialdemokratie zu trennen. Seine Partei blieb jedoch ohne Einfluß auf die Arbeiterklasse; sie wurde zum Sammelbecken des Antisemitismus.

[3] Dem sogenannten Ersten Deutschen Arbeiterkongreß war vom Bund der Landwirte ein Begrüßungsschreiben zugegangen, in dem sich dieser sehr wohlwollend über den Kongreß aussprach. Die Versammlung quittierte dieses Telegramm mit Gelächter.

[4] Robert von Puttkamer. 1881 bis 1888 preußischer Innenminister, hatte das Sozialistengesetz brutal durchgesetzt und nicht nur Sozialisten, sondern alle fortschrittlichen Kräfte verfolgt.