Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 405

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handelt. Wie würde er nun, frage ich, den Mann nennen, der sich beispielsweise herausnehmen würde, ihn, Ledebour, in irgendeiner Weise abzuurteilen, ohne ihn zu befragen, ohne einen Blick in die Akten zu tun, ohne auch nur in der Lage zu sein, sich mit den Akten der Sprache wegen selbst vertraut zu machen, ohne auch nur blauen Dunst von der ganzen Sache zu verstehen, und der ihm auf Grund einer solchen absoluten Unkenntnis auch noch öffentlich ehrenrührige Dinge nachsagen würde?

Ich kann mir denken, wie Ledebour so einen seltsamen Kauz in seinem dröhnenden Pathos nennen würde!

Ich für meinen Teil beurteile das Vorgehen Ledebours in einer für ihn weniger beleidigenden und sogar vorteilhaften Weise. Er scheint mir nämlich in dem fatalen Aberglauben befangen zu sein, daß, nachdem er den sechsten Wahlkreis geerbt hat[1], dessen früherer Vertreter, Liebknecht, für die polnische Frage ein warmes Interesse hatte, auch er, Ledebour, nun die Ehrenpflicht habe, Polen unbedingt wiederherzustellen.

Natürlich hat Ledebour auch das verschlafen, daß Liebknecht, der noch in seinem siebzigsten Lebensjahre entwicklungsfähig war, zum Schluß seine Ansichten in diesem Punkte, wie uns scheint, geändert und sich auf den Standpunkt gestellt hat, den ich heute vertrete, wie sein im „Vorwärts“, Nr. 188 vom 15. August 1900 abgedruckter Brief beweist.[2]

Aber auch angenommen, Liebknecht hätte die Ansichten von 1848 in der Polenfrage in keinem Punkte revidiert, so machte doch allerdings nicht die Stellung in der Polenfrage Liebknecht zum Liebknecht, nicht sie machte seine Größe aus. Und wenn Ledebour dabei verharrt, den „Alten“ hauptsächlich in der Polenfrage der Partei zu ersetzen, so habe ich große Besorgnis, daß er schließlich nicht als ein neuer Liebknecht, sondern als der alte, wohlbekannte Ledebour sterben wird – leben soll er mir natürlich hundertundzwanzig Jahre.

Und nun zum „bodenlosen Schwindel“. Ich hätte nach Ledebour in Lübeck behauptet, daß ich eine „mächtige Organisation“ vertrete, währenddem „die Gruppe Luxemburg“ tatsächlich gar keine Bedeutung habe, und Ledebour fühlt sich auch schwer gekränkt, daß diese bedeutungslose Gruppe überhaupt zu den Verhandlungen mit der nationalistischen Sonderorganisation zugelassen wurde.

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[1] Nach dem Tode Wilhelm Liebknechts am 7. August 1900 war Georg Ledebour seit 10. Oktober 1900 Vertreter des sechsten Berliner Wahlkreises im Reichstag.

[2] Der „Vorwärts“ hatte einen Brief Wilhelm Liebknechts vom 12. Dezember 1894 an die Redaktion des „Robotnik“ veröffentlicht, in dem er die Ansicht vertrat, die polnische Sozialdemokratie müsse eng mit der deutschen verbunden sein, solange das polnische Volk seine staatliche Unabhängigkeit nicht erlangt habe.