Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 400

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„von den Strapazen des Berufs“ und der „politischen Fachsimpelei“ zu erholen. Wie auf der Neige der Glanzperiode des alten Griechenlands um Perikles sich Staatsmänner, Philosophen, Politiker und Künstler vereinigten, um in freiem Meinungsaustausch die höchsten Gipfel des menschlichen Geistes zu erklimmen und die subtilsten Feinheiten der Kultur auszukosten, so sammelten sich in einer Berliner Kneipe um den Perikles-Harden die sozialdemokratischen Staatsmänner, um im Kreise liebenswürdiger Frauen und geistreicher Journalisten, fern vom rohen Gewühl des Klassenkampfes und dem Schweißgeruch der Massen über Politik und Kunst, Erhabenes und Heiteres zu plaudern. Fehlten auch die griechischen Rosenkränze auf den Häuptern der Versammelten und mußte vielleicht der gemeine Pschorrbräu den edlen Saft der thessalischen Rebe ersetzen, so schwebte doch über dem Ganzen der wahre Geist antiker Freundschaft, feinster Bildung; und mit echter Toleranz höherer Geister wurden die verschiedensten Ansichten und Meinungen gegenseitig ausgetauscht und verglichen – mitunter auch Detektivmaterial gegen unbequeme Genossen. „Wie unter Gebildeten“, sagt Genosse Heine.

Und nun greift die rohe proletarische Faust, die kein Verständnis für feine Bildung und das perikleische Zeitalter hat, ein, um all die „zarten Bande freier Menschlichkeit“ barbarisch zu zerstören. Die von der bürgerlichen Gesellschaft bis weit in unser Lager hinein ausgestreckten Fühler ziehen sich, schmerzlich aufzuckend, mit Eile zurück. Des Herrn Jastrow gekränktes Wesen, der „Vossischen“ Zetern, des Mosse-Freisinns[1] Schmähungen quittieren über die geknickten Hoffnungen. Der revisionistische Nebel hat sich verzogen, und vor den haßerfüllten Blicken der Bourgeoisie ragt die steile, zackige Felswand der proletarischen Bastionen in alter Unnahbarkeit, in alter Schroffheit empor. Zwischen ihr und der bürgerlichen Welt gähnt wieder unüberbrückbar die tiefe Kluft, und was für die bürgerlichen Marodeure noch vor einem Augenblick nur ein Spaziergang hinüber zu sein schien, ist jetzt ein Sprung, „bei dem man sich den Hals bricht“ – wenn man nicht die ganze Persönlichkeit in das Wagnis setzt.

Der Zusammenhang der ethischen Erscheinungen der letzten Tage mit den revisionistischen Methoden ist nun klar. Eben jenes fröhliche Hinüber und Herüber über den Graben, der das Kampflager des Proletariats von den bürgerlichen Feinden trennt, das durch die revisionistische „freie Kritik“, „freie“ Meinungsäußerung” und „freie Mitarbeit“ an der bürgerlichen Presse hergestellt war, das war der Boden, auf dem jene Erscheinungen

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[1] Das „Berliner Tageblatt“, das der Freisinnigen Vereinigung politisch und personell nahestand, und die „Berliner Volkszeitung“, die mit dieser Partei in innenpolitischen Fragen übereinstimmte, wurden von dem Zeitungsverleger Rudolf Mosse herausgegeben.