Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 398

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sen ernst nahm, sondern „anderwärts“, und zwar in dem reaktionären preußischen Staate. Heute, nachdem die „liberalen Wortführer“ sich längst mit der Reaktion des preußischen Staates gegen die „Masse“ verschworen haben, heute freilich erblicken sie selbst in ihr „den wahren Feind des Geistes“. In der Masse nämlich, die ihnen mit Verachtung den Rücken gedreht hat, um auf eigene Faust gegen die Reaktion wie gegen den bürgerlichen Liberalismus zu kämpfen, und die seine „Wortführer“ erst wieder am 16. Juni[1] um eine so hübsche Strecke dem Grabe näher gebracht hat.

Es ist die alte Fabel von den Trauben, die zu sauer waren. Nachdem die Bourgeoisie ihre eigene Anhängerschaft in den breiten Volksschichten mit jedem Tage mehr an die Sozialdemokratie verlor, blieb ihr die einzige Hoffnung, die sozialdemokratische Arbeiterschaft wenigstens durch das Medium des Revisionismus in die Bahnen der bürgerlichen Politik zu drängen, dem proletarischen Klassenkampf das Rückgrat zu brechen und so für die Verluste im historischen Spiele auf Umwegen eine schwache Revanche zu nehmen.

Solange diese Hoffnung währte, schien die sozialdemokratische Masse großen Sinn für „Kultur“ und „Bildung“ zu verraten und versprach allmählich eine „zivilisierte“ Macht zu werden. Jetzt, nachdem sie so roh und kulturfeindlich war, alle Kuckuckseier, die ihr von der Bourgeoisie behutsam ins Nest gelegt worden waren, in Dresden mit grobem proletarischem Stiefel zu zertreten, kann es selbstverständlich keinem Zweifel unterliegen, daß es nur eine blinde Herde ist, die sich von ihren Führern und Diktatoren zu einer so unzivilisierten Handlung aufhetzen lassen konnte.

Das Bild entbehrt nicht einer gewissen Komik, allein, es kann zugegeben werden, daß der Schmerz der betrogenen Betrüger diesmal besonders ernste Gründe hat. Haben die früheren Parteitage die einzelnen Äußerungen der Praxis und die Theorie des Revisionismus verurteilt, so hat die Partei zu Dresden und nach Dresden nicht nur in verstärktem Maße jenes Urteil wiederholt, sondern sie ist zugleich auch über eine andere Seite des Revisionismus zu Gericht gesessen – über seine politische Ethik und die damit verknüpfte persönliche Liaison mit der Bourgeoisie.

Für jedermann, der sich über die Vorgänge der letzten Tage in ihrem inneren Zusammenhang Rechenschaft ablegt, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der vielbesprochene Artikel über die „Parteimoral“[2], so zufällig auch seine Entstehung sein mag und sowenig er die wirkliche

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[1] Am 16. Juni 1903 hatten die Wahlen zum deutschen Reichstag stattgefunden. Die Sozialdemokratie errang mit über drei Millionen Stimmen einen Wahlsieg und erhöhte die Zahl ihrer Abgeordneten gegenüber 1898 um 25 auf insgesamt 81.

[2] Georg Bernhard: Parteimoral. In: Die Zukunft (Berlin), XI. Jg. 1903, Nr. 15, S. 79–81.