Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 397

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schen Mündigkeit, und die Früchte dieser Arbeit erntet er heute, wo die Masse ihm begeistert folgt, soweit er, wie in diesem Augenblick, ihrem Wollen und Denken Worte verleiht. Und wenn die Heranbildung der klaren, bewußten, durchgeistigten Führerin Masse, der Lassalleschen Vereinigung der Wissenschaft mit den Arbeitern nur ein dialektischer Prozeß ist und bleibt, da immer frische Elemente aus Arbeiterkreisen und Mitläufer aus anderen Schichten herbeiströmen, so ist und bleibt doch die herrschende Tendenz der sozialdemokratischen Bewegung: die Abschaffung der „Führer“ und der „geführten“ Masse im bürgerlichen Sinne, dieser historischen Grundlage aller Klassenherrschaft.

Allerdings hieße es den Schatten der alten bürgerlichen Freiheitskämpfer schmähen, wollte man sie mit den heutigen bürgerlichen „Führern“ auf eine Stufe stellen. Das Aufkommen der Sozialdemokratie hat auch auf das Verhältnis der Masse zu den Führern außerhalb des proletarischen Klassenkampfes, in dem bürgerlichen Milieu selbst, in tiefgehender Weise zurückgewirkt. Die Klassenbewegungen der aufstrebenden Bourgeoisie beruhten nicht nur auf der Unklarheit der Volksmassen über die eigentlichen Ziele der jeweiligen Aktion, sondern auch in hohem Maße auf der Unklarheit der Führer selbst. Jetzt, nachdem die eigenen Klasseninteressen der Volksmasse aufgedeckt sind, vermag die Bourgeoisie ihre Gefolgschaft nur durch absichtliche Verschleierung der eigenen Klassenbestrebungen wie der ihnen entgegengesetzten Interessen des Volkes aufrechtzuerhalten. Die revolutionären Vorkämpfer der Bourgeoisie waren Volksführer auf Grund einer historischen Selbsttäuschung. – Die Bachem, Bassermann, Richter, deren Soldschreiber über die „Diktatur“ Bebel zetern, sind Volksvertreter auf Grund eines politischen Betrugs.

Wenn nun unter diesen auf berufsmäßiger Täuschung der Masse begründeten Parteien gerade der Liberalismus gegenwärtig in Schmähungen über die „blinde Masse“ der Sozialdemokratie und die „Empörung der schwieligen Faust“ gegen den „heiligen Geist der Bildung“ allen anderen vorangeht, so zeigt dies nur drastisch, wie gründlich sich die geschichtliche Szenerie und der „Geist“ dieser Herren seit einem halben Jahrhundert geändert haben.

Es war der Hegelianer Bruno Bauer, der nach seiner Absage an die radikale Bewegung anfangs der vierziger Jahre mit den „liberalen Wortführern der Masse“ polemisierte, um ihnen klarzumachen, daß gerade „in der Masse, nicht anderwärts“, der „wahre Feind des Geistes“ zu suchen sei. Die „liberalen Wortführer“ von dazumal suchten eben noch den „wahren Feind des Geistes“ nicht in der „Masse“, die ihre liberalen Phra-

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