Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 396

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dieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne im mindesten zu wissen, was sie will“[1], dieses Wort, mit dem bürgerliche Skribenten die sozialdemokratische Masse treffen wollen, ist nämlich nichts anderes als das klassische Schema der „Majoritäten“ in den bürgerlichen Parteien. In allen bisherigen Klassenkämpfen, die im Interesse von Minoritäten ausgefochten wurden oder wo, wie Marx sagt, die gesamte historische Entwicklung im Gegensatz zu der großen Volksmasse stattgefunden hat, da bildete die Unklarheit der Masse über die eigentlichen Ziele, den materiellen Gehalt und die Grenzen der historischen Aktion die Vorbedingung selbst dieser Aktion. Dieses Mißverständnis war auch der spezifische geschichtliche Boden der „Führerschaft“ auf seiten der „gebildeten“ Bourgeoisie, der das „Nachtrollen“ der Masse entsprach.

Aber, schrieb Marx schon 1845, „mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird also der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist“[2]. Der proletarische Klassenkampf ist die „gründlichste“ aller bisherigen historischen Aktionen, sie umfaßt die gesamten unteren Volksschichten, und sie ist die erste Aktion seit dem Bestehen der Klassengesellschaft, die dem eigenen Interesse der Masse entspricht.

Die eigene Einsicht der Masse in ihre Aufgaben und Wege ist deshalb hier eine ebenso unerläßliche geschichtliche Vorbedingung der sozialdemokratischen Aktion, wie früher ihre Einsichtslosigkeit die Vorbedingung der Aktionen der herrschenden Klassen war.

Damit ist aber der Gegensatz zwischen der „Führerschaft“ und der „nachtrollenden“ Majorität aufgehoben, das Verhältnis der Masse zu den Führern auf den Kopf gestellt. Die einzige Rolle der sogenannten „Führer“ in der Sozialdemokratie besteht darin, die Masse über ihre historischen Aufgaben aufzuklären. Das Ansehen, der Einfluß der „Führer“ in der Sozialdemokratie wächst nur im Verhältnis zu der Menge Aufklärung, die sie in diesem Sinne leisten, das heißt also gerade im Verhältnis, wie sie die bisherige Grundlage jeder Führerschaft, die Blindheit der Masse, zerstören, in dem Verhältnis, mit einem Worte, wie sie sich selbst ihrer Führerschaft entäußern, die Masse zur Führerin und sich selbst zu Ausführern, zu Werkzeugen der bewußten Massenaktion machen. Die „Diktatur“ eines Bebel, das heißt sein enormes Ansehen und sein Einfluß, beruht nur auf seinem enormen Werk der Aufklärung der Masse zur politi-

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[1] Goethes Werke Unter Mitwirkung mehrerer Fachgelehrter herausgegeben von Prof. Dr. Karl Heinemann, 24. Bd., Leipzig u. Wien o. J., S. 265 f.

[2] Friedrich Engels und Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 2, S. 86.