Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 38

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/38

Radikalismus selbst vollzog sich eine innere Differenzierung. Während ein Teil seiner Anhänger sich durch wesentlichste Interessen an die herrschende Bourgeoisie herangezogen fühlt, sieht sich ein anderer gezwungen, eine sozialistische Färbung anzunehmen.

Der „reine“ Radikalismus, auf diese Weise in der opportunistischen Republik auf eine schwache Zwischenpartei reduziert, konnte, um sein politisches Programm durchzusetzen, nur eines von beiden wählen: entweder sich in der Kammer auf die Opposition beschränken und ihr durch den außerparlamentarischen Einfluß der Massen Nachdruck verleihen oder aber sich nur auf parlamentarische Kombinationen und auf die Aussicht stützen, neben der opportunistischen Bourgeoisie zur Herrschaft zu gelangen.

Das erstere, neben der sozialistischen Arbeiterpartei die Anhängerschaft der Volksmassen wiederzugewinnen, war für den Radikalismus doppelt unmöglich. Nicht nur konnte er den Arbeitern wenig bieten. Bei der Vorherrschaft und der verhältnismäßigen Stabilität des Kleingewerbes in Frankreich mußten auch die sozialen Bestrebungen des Proletariats das Kleinbürgertum hier mehr als in irgendeinem Lande abschrecken. Indem der Radikalismus aber bei seinem dürftigen politischen Programm verharrte, verwies er sich selbst auf den ausschließlichen Weg der parlamentarischen Mitherrschaft mit der opportunistischen Bourgeoisie. Und hier begann sein Zusammenbruch.

In gewöhnlichen Zeiten neben dem Opportunismus in den „gemischten“ Regierungen zu der Rolle eines passiven Mitschuldigen verurteilt, gelingt es ihm von Zeit zu Zeit, sich als unentbehrlich aufzuspielen, nämlich jedesmal, wenn sich die opportunistische Bourgeoisie durch einen Skandal kompromittiert und die Republik eine Krise durchlebt. Der Radikalismus findet dann die Möglichkeit, wieder seinen alten Programmlappen der „Verteidigung der Republik“ hervorzuholen und für einige Zeit ans Ruder zu gelangen. Hier stellt sich aber regelmäßig die Tatsache heraus, die vorher auf der Hand lag und aus der er nur die Schlüsse zu ziehen unterließ, nämlich daß der Radikalismus zur Durchführung seiner radikalen Reformen in der Kammer tatsächlich keine Mehrheit besitzt.

Um zu regieren, um sich am Ruder zu erhalten, ist er deshalb gezwungen, sein eigenes Programm im Stiche zu lassen und entweder unter einer Scheintätigkeit das Nichtstun zu verbergen oder aber direkt opportunistische Politik zu treiben. In beiden Fällen beweist er aber bald der Kammer seine Überflüssigkeit, dem Lande seine Unzuverlässigkeit, und so wird er immer mehr zum ohnmächtigen Anhängsel der opportunistischen Bourgeoisie.

Nächste Seite »